Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die Mär von der auseinandergehenden Schere
Daten des DIW zeigen, dass die Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahren nicht größer geworden ist
- Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. So hieß es in den vergangenen Wochen im Wahlkampf immer wieder – vorzugsweise vorgebracht von Politikern der Linken, der Grünen oder der SPD. Doch nach Daten aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stimmt diese bündig klingende Aussage so nicht. Untersucht haben die Forscher die Entwicklung von (Haushalts-)Einkommen und Löhnen in Deutschland. Das Ergebnis: Die Einkommensungleichheit stagniert langfristig gesehen, die Schere ist also nicht weiter auseinandergegangen.
Und – was für manchen noch erstaunlicher sein mag: Während der Corona-Pandemie hat sich die Schere der Einkommensungleichheit sogar etwas geschlossen. „Schon in der Finanzkrise hat sich gezeigt, dass sich die Einkommensungleichheit in Krisenzeiten reduziert. Denn die oberen Einkommen sinken in solchen Zeiten stärker als diejenigen der unteren Einkommensgruppen", sagte Markus Grabka, Experte für Einkommens- und Vermögensverteilung beim DIW der „Schwäbischen Zeitung“.
Die jüngsten Analysen der monatlichen Haushaltseinkommen während der Corona-Krise zeigen, das im unteren und mittleren Bereich der Einkommensverteilung zu Beginn des Jahres 2021 wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen ist. Dagegen sind die Einkommen in den oberen Bereichen leicht rückläufig. „In der Corona-Pandemie wirken sich die rückläufigen Einkommen von Selbstständigen besonders auf die Verteilung aus“, erklärt Markus Grabka. Sinkende Umsätze etwa von selbstständigen Dienstleistern bedeuten rückläufige Einkommen. Einkommen von Erwerbslosen, Ruheständlern und Arbeitnehmern dagegen bleiben auch in Krisenzeiten weitgehend unverändert. Allerdings besteht mit Fortgang von Krisen das Risiko steigender Arbeitslosigkeit, die sich dann in einer höheren Zahl niedriger Einkommen niederschlägt.
Blickt man auf die Jahre vor der Corona-Krise zurück, lässt sich die langfristige Entwicklung vom Jahr 2000 an in unterschiedliche Phasen unterteilen. So ist beispielsweise der durchschnittliche Bruttostundenlohn zwischen 2000 und 2013 zurückgegangen. Das lag an einem Anstieg von Teilzeitbeschäftigungen vor allem bei Frauen, die im Durchschnitt noch immer geringere Stundenlöhne bekommen als ihre männlichen Kollegen. Auch Lohnzurückhaltung in Tarifverhandlungen wirkte sich in dieser Zeit negativ auf die Lohnentwicklung aus.
Von 2013 an aber änderte sich dieser Trend. Seither sind die durchschnittlichen Bruttostundenlöhne bis 2019 um rund zehn Prozent gestiegen. Dabei stellt Markus Grabka fest, „dass Beschäftigte im unteren und mittleren Segment der Lohnverteilung in vergleichbarem Ausmaß von den Reallohnsteigerungen profitieren konnten wie Beschäftigte im oberen Segment der Lohnverteilung“. Hintergrund für die Entwicklung war einerseits der lang anhaltende wirtschaftliche Aufschwung nach der großen Finanzkrise 2008/ 09, in dem sich die Lohnforderungen der Gewerkschaften zunehmend am Produktionsfortschritt orientiert hatten. Aber auch die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 habe hierbei eine Rolle gespielt, erklären die Forscher des DIW. Hier hat also offenbar eine politische Maßnahme mit dazu beigetragen, das Auseinanderklaffen von Einkommen in Grenzen zu halten.
In die Studie von Markus Grabka und seinen Kollegen beim DIW sind vor allem auch Daten des Sozioökonomischen Panels eingeflossen. Dazu koordiniert das DIW jährlich eine Umfrage unter mehr als 30 000 Personen – unter anderem auch zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Die so aufbereiteten Daten dienen anderen Forschern für deren Analysen. So hat etwa auch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) diese Studiendaten untersucht und kommt zu ähnlichen Schlüssen. „Der hitzigen Debatte um eine sich öffnende Einkommensschere zwischen Arm und Reich fehlt die wissenschaftliche Basis“, sagte IW-Studienautor Maximilian Stockhausen.
Das zeigt sich auch im Niedriglohnsektor. Als Basis dient die Niedrigeinkommensquote, die im Jahr 2018 in einem Einpersonenhaushalt bei 1216 Euro netto im Monat lag. Bis 2015 gab es hier seit der Jahrtausendwende einen deutlichen Anstieg der Menschen mit Niedrigeinkommen – von rund elf auf knapp 16,5 Prozent. Seither stagniert dieser Wert auf diesem Niveau. Dass es in den vergangenen Jahren seither zu keiner Verbesserung kam, liegt auch an der Zuwanderung in Deutschland. Denn die meisten Zugewanderten Menschen landeten aufgrund von Barrieren wie Sprachkenntnissen oder fehlender Arbeitserlaubnis zunächst in den untersten Einkommensbereichen der Statistik. Erst allmählich bessert sich die Lage mit zunehmender Integration.
Auch der Personenkreis von Menschen, die nach Kriterien der europäischen Sozialberichterstattung aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse erheblichem Mangel ausgesetzt sind, ist zurückgegangen: Der Anteil der Menschen, die Grundbedürfnisse oder die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht finanzieren können, hat sich zwischen der Krise 2008 und 2019 von 5,5 Prozent auf 2,7 Prozent halbiert.
Und schließlich zeigt auch der zur Einkommensungleichheit oft herangezogene Gini-Koeffizient für die vergangenen Jahre keine auseinandergehende Schere der Einkommen. Der Gini-Koeffizient bewegt sich zwischen 0 und 1: Je höher der Wert ausfällt, desto höher die Ungleichheit in einem Land. Hier zeigt sich zwischen 2000 und 2005 ein Anstieg von 0,26 auf 0,29 – die Schere lief also auseinander. In den Folgejahren aber bewegte sich der Wert mit kleinen Ausschlägen nach oben und unten auf diesem Niveau und lag 2018 immer noch bei 0,29.
Anders allerdings verhält es sich bei der Frage der Vermögensverteilung. Denn da verharrt die Ungleichheit der Statistik zufolge auf einem im internationalen Vergleich sehr hohen Niveau. So lag der Gini-Koeffizient 2017 bei 0,78. Allerdings sind hier Daten schwer zu erfassen, insbesondere hohe Vermögen werden tendenziell untererfasst. Daher gehen die Forscher vom DIW davon aus, dass die Vermögensungleichheit in den zehn Jahren bis 2017 gestiegen ist.