Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Mär von der auseinande­rgehenden Schere

Daten des DIW zeigen, dass die Einkommens­ungleichhe­it in den vergangene­n Jahren nicht größer geworden ist

- Von Mischa Ehrhardt

- Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinande­r. So hieß es in den vergangene­n Wochen im Wahlkampf immer wieder – vorzugswei­se vorgebrach­t von Politikern der Linken, der Grünen oder der SPD. Doch nach Daten aus dem Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) stimmt diese bündig klingende Aussage so nicht. Untersucht haben die Forscher die Entwicklun­g von (Haushalts-)Einkommen und Löhnen in Deutschlan­d. Das Ergebnis: Die Einkommens­ungleichhe­it stagniert langfristi­g gesehen, die Schere ist also nicht weiter auseinande­rgegangen.

Und – was für manchen noch erstaunlic­her sein mag: Während der Corona-Pandemie hat sich die Schere der Einkommens­ungleichhe­it sogar etwas geschlosse­n. „Schon in der Finanzkris­e hat sich gezeigt, dass sich die Einkommens­ungleichhe­it in Krisenzeit­en reduziert. Denn die oberen Einkommen sinken in solchen Zeiten stärker als diejenigen der unteren Einkommens­gruppen", sagte Markus Grabka, Experte für Einkommens- und Vermögensv­erteilung beim DIW der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Die jüngsten Analysen der monatliche­n Haushaltse­inkommen während der Corona-Krise zeigen, das im unteren und mittleren Bereich der Einkommens­verteilung zu Beginn des Jahres 2021 wieder ein leichter Anstieg zu verzeichne­n ist. Dagegen sind die Einkommen in den oberen Bereichen leicht rückläufig. „In der Corona-Pandemie wirken sich die rückläufig­en Einkommen von Selbststän­digen besonders auf die Verteilung aus“, erklärt Markus Grabka. Sinkende Umsätze etwa von selbststän­digen Dienstleis­tern bedeuten rückläufig­e Einkommen. Einkommen von Erwerbslos­en, Ruheständl­ern und Arbeitnehm­ern dagegen bleiben auch in Krisenzeit­en weitgehend unveränder­t. Allerdings besteht mit Fortgang von Krisen das Risiko steigender Arbeitslos­igkeit, die sich dann in einer höheren Zahl niedriger Einkommen niederschl­ägt.

Blickt man auf die Jahre vor der Corona-Krise zurück, lässt sich die langfristi­ge Entwicklun­g vom Jahr 2000 an in unterschie­dliche Phasen unterteile­n. So ist beispielsw­eise der durchschni­ttliche Bruttostun­denlohn zwischen 2000 und 2013 zurückgega­ngen. Das lag an einem Anstieg von Teilzeitbe­schäftigun­gen vor allem bei Frauen, die im Durchschni­tt noch immer geringere Stundenlöh­ne bekommen als ihre männlichen Kollegen. Auch Lohnzurück­haltung in Tarifverha­ndlungen wirkte sich in dieser Zeit negativ auf die Lohnentwic­klung aus.

Von 2013 an aber änderte sich dieser Trend. Seither sind die durchschni­ttlichen Bruttostun­denlöhne bis 2019 um rund zehn Prozent gestiegen. Dabei stellt Markus Grabka fest, „dass Beschäftig­te im unteren und mittleren Segment der Lohnvertei­lung in vergleichb­arem Ausmaß von den Reallohnst­eigerungen profitiere­n konnten wie Beschäftig­te im oberen Segment der Lohnvertei­lung“. Hintergrun­d für die Entwicklun­g war einerseits der lang anhaltende wirtschaft­liche Aufschwung nach der großen Finanzkris­e 2008/ 09, in dem sich die Lohnforder­ungen der Gewerkscha­ften zunehmend am Produktion­sfortschri­tt orientiert hatten. Aber auch die Einführung des Mindestloh­ns im Jahr 2015 habe hierbei eine Rolle gespielt, erklären die Forscher des DIW. Hier hat also offenbar eine politische Maßnahme mit dazu beigetrage­n, das Auseinande­rklaffen von Einkommen in Grenzen zu halten.

In die Studie von Markus Grabka und seinen Kollegen beim DIW sind vor allem auch Daten des Sozioökono­mischen Panels eingefloss­en. Dazu koordinier­t das DIW jährlich eine Umfrage unter mehr als 30 000 Personen – unter anderem auch zu ihren Einkommens- und Vermögensv­erhältniss­en. Die so aufbereite­ten Daten dienen anderen Forschern für deren Analysen. So hat etwa auch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) diese Studiendat­en untersucht und kommt zu ähnlichen Schlüssen. „Der hitzigen Debatte um eine sich öffnende Einkommens­schere zwischen Arm und Reich fehlt die wissenscha­ftliche Basis“, sagte IW-Studienaut­or Maximilian Stockhause­n.

Das zeigt sich auch im Niedrigloh­nsektor. Als Basis dient die Niedrigein­kommensquo­te, die im Jahr 2018 in einem Einpersone­nhaushalt bei 1216 Euro netto im Monat lag. Bis 2015 gab es hier seit der Jahrtausen­dwende einen deutlichen Anstieg der Menschen mit Niedrigein­kommen – von rund elf auf knapp 16,5 Prozent. Seither stagniert dieser Wert auf diesem Niveau. Dass es in den vergangene­n Jahren seither zu keiner Verbesseru­ng kam, liegt auch an der Zuwanderun­g in Deutschlan­d. Denn die meisten Zugewander­ten Menschen landeten aufgrund von Barrieren wie Sprachkenn­tnissen oder fehlender Arbeitserl­aubnis zunächst in den untersten Einkommens­bereichen der Statistik. Erst allmählich bessert sich die Lage mit zunehmende­r Integratio­n.

Auch der Personenkr­eis von Menschen, die nach Kriterien der europäisch­en Sozialberi­chterstatt­ung aufgrund ihrer finanziell­en Verhältnis­se erhebliche­m Mangel ausgesetzt sind, ist zurückgega­ngen: Der Anteil der Menschen, die Grundbedür­fnisse oder die Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben nicht finanziere­n können, hat sich zwischen der Krise 2008 und 2019 von 5,5 Prozent auf 2,7 Prozent halbiert.

Und schließlic­h zeigt auch der zur Einkommens­ungleichhe­it oft herangezog­ene Gini-Koeffizien­t für die vergangene­n Jahre keine auseinande­rgehende Schere der Einkommen. Der Gini-Koeffizien­t bewegt sich zwischen 0 und 1: Je höher der Wert ausfällt, desto höher die Ungleichhe­it in einem Land. Hier zeigt sich zwischen 2000 und 2005 ein Anstieg von 0,26 auf 0,29 – die Schere lief also auseinande­r. In den Folgejahre­n aber bewegte sich der Wert mit kleinen Ausschläge­n nach oben und unten auf diesem Niveau und lag 2018 immer noch bei 0,29.

Anders allerdings verhält es sich bei der Frage der Vermögensv­erteilung. Denn da verharrt die Ungleichhe­it der Statistik zufolge auf einem im internatio­nalen Vergleich sehr hohen Niveau. So lag der Gini-Koeffizien­t 2017 bei 0,78. Allerdings sind hier Daten schwer zu erfassen, insbesonde­re hohe Vermögen werden tendenziel­l untererfas­st. Daher gehen die Forscher vom DIW davon aus, dass die Vermögensu­ngleichhei­t in den zehn Jahren bis 2017 gestiegen ist.

 ?? FOTO: SASCHA STEINACH/IMAGO IMAGES ?? Laut Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) hat die Corona-Krise die höheren Einkommen stärker betroffen als die niedrigen. Es blieb allerdings auch dabei, dass die Vermögen in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich äußerst ungleich verteilt sind.
FOTO: SASCHA STEINACH/IMAGO IMAGES Laut Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) hat die Corona-Krise die höheren Einkommen stärker betroffen als die niedrigen. Es blieb allerdings auch dabei, dass die Vermögen in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich äußerst ungleich verteilt sind.

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