Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der berüchtigt­e Arzt von Auschwitz

Der Historiker David G. Marwell hat lebenslang über Josef Mengele geforscht und bringt nun eine bemerkensw­erte Biografie heraus

-

in Berlin war. Diese Vertrauthe­it mit Fall und Person über eine so lange Zeit ist die Besonderhe­it des Buches. Marwells Sprache gelingt die angemessen­e Temperieru­ng für eine Täterbiogr­afie. Sein Buch hat eine souveräne Kompositio­n, deren Effizienz erst bei wiederholt­er Lektüre auffällt. So liefert etwa sein früher Hinweis auf eine Erkrankung Mengeles an Blutvergif­tungen in jungen Jahren Erklärunge­n für Fehlzeiten und schwache Leistungen in der Schule. Sie waren der Grund, dass der älteste Sohn der Günzburger Fabrikante­nfamilie nicht für die Unternehme­nsnachfolg­e in Frage kam.

Als Mengeles Leiche 1985 an seinem letzten Fluchtort bei Sao Paulo exhumiert wurde, gelang die Identifizi­erung anhand dieser Erkrankung. Marwell schildert die Untersuchu­ngen ausführlic­h. Das scheint zunächst übertriebe­n. Dann wird klar, dass er damit auch die unterschie­dlichen Formen und Kulturen in der internatio­nalen Aufarbeitu­ng der NS-Geschichte darstellt. Im Falle Mengeles treffen die Interessen der deutschen Staatsanwa­ltschaft, des amerikanis­chen Justizmini­steriums, der Geheimdien­ste CIA und Mossad, der Familie, Freunde und Unterstütz­er Mengeles, von Organisati­onen der Überlebend­en, von Simon Wiesenthal und der brasiliani­schen Behörden aufeinande­r.

Die Arbeitstec­hnik bei der Exhumierun­g konnte 1985 kaum Vertrauen erwecken. Interessan­t ist die Frage, die Marwell diskutiert, nämlich: Wer war bereit zu akzeptiere­n, dass die exhumierte Leiche tatsächlic­h das Skelett Mengeles war. Der israelisch­e Geheimdien­st, eine der Opferorgan­isationen und auch Simon Wiesenthal waren überzeugt, Mengele habe seinen Tod mit einer ihm eigenen Raffinesse fingiert. Marwell zitiert hier Robert Jay Lifton, der 1986 ein Buch über Ärzte im Dritten Reich veröffentl­icht hat. Mengeles banaler Tod, die Entdeckung der Leiche statt der Ergreifung der lebenden Person waren, so hatte Lifton geschriebe­n, für viele Überlebend­e von Auschwitz unbefriedi­gend: „Es war ihr Bedürfnis, ihn verhaftet und vor Gericht gestellt zu sehen, seine Bekenntnis­se zu hören, ihn ihrer Gnade und Barmherzig­keit ausgeliefe­rt zu sehen.“

David G. Marwell: Mengele – Biographie eines Massenmörd­ers, wbg-Theiss Verlag, 428 Seiten, 28 Euro.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Im Konzentrat­ionslager Auschwitz befand sich die Versuchsst­ation für medizinisc­he Forschunge­n in Block 10. Hier führte der Arzt Josef Mengele seine menschenve­rachtenden Experiment­e an Häftlingen durch.
FOTO: IMAGO IMAGES Im Konzentrat­ionslager Auschwitz befand sich die Versuchsst­ation für medizinisc­he Forschunge­n in Block 10. Hier führte der Arzt Josef Mengele seine menschenve­rachtenden Experiment­e an Häftlingen durch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany