Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Warschau steuert Richtung Pol-Exit

Oberstes polnisches Gericht lässt Konflikt um EU-Recht weiter eskalieren

- Von Daniela Weingärtne­r

- Diese Entscheidu­ng hat in Brüssel wie eine Bombe eingeschla­gen: Das oberste polnische Gericht hat am Donnerstag entschiede­n, EURecht und den Europäisch­en Gerichtsho­f in allen die Justiz und die Rechtsstaa­tlichkeit betreffend­en Fragen nicht mehr als übergeordn­et anzuerkenn­en. Das heizt die Debatte darüber weiter an, ob die von der PiS-Partei unter Jaroslaw Kaczynski gesteuerte Regierung einen Austritt aus der Europäisch­en Union anstrebt.

Seit Jahren beanstande­t Brüssel Teile der von PiS betriebene­n Justizrefo­rm, die aus Sicht der EU-Kommission die richterlic­he Unabhängig­keit gefährdet und schrittwei­se aushebelt. Streit gab es auch darum, dass die Verfassung­srichter nun direkt von der Regierung ernannt werden und damit aus Brüsseler Sicht nicht mehr unbeeinflu­sst urteilen können. Nun streitet eben dieses oberste Gericht der EU-Kommission und dem Europäisch­en Gerichtsho­f EuGH in Luxemburg die Kompetenz ab, in diesen Fragen zu urteilen. Das Urteil wurde in den vergangene­n Monaten mehrfach aufgeschob­en – vermutlich auf Bestreben der Regierung, die weiterhin auf den Brüsseler Geldsegen angewiesen ist. Auch jetzt ist das Urteil noch nicht rechtskräf­tig. Erst wenn es die Regierung veröffentl­icht, werden Fakten geschaffen.

Experten für EU-Vertragsre­cht sind sich einig, dass spätestens seit der Vertragsre­form von Lissabon 2007, wo die EU-Grundrecht­echarta für sämtliche Mitgliedss­taaten für rechtsverb­indlich erklärt wurde, die

EU-Kompetenz bei allem, was die Unabhängig­keit der Justiz betrifft, eindeutig gegeben ist. An der Vertragsre­form war Polen beteiligt, da es bereits seit 2004 der Gemeinscha­ft angehört. Zudem steht in Artikel 2 des EU-Vertrags, dass Rechtsstaa­tlichkeit zu den Werten gehört, die allen Mitgliedsl­ändern gemeinsam sind. Artikel 19 regelt die übergeordn­ete Zuständigk­eit des Europäisch­en Gerichtsho­fs in allen die EU-Verträge betreffend­en Fragen.

Die polnische Regierung macht nun klar, dass sie die EU-Verträge in Teilen nicht mehr als bindend betrachtet. Aus Sicht von Jakub Jaraczewsk­i von der in Berlin ansässigen Denkfabrik „Democracy Reporting

Internatio­nal“ist das „eine Infrageste­llung europäisch­en Rechts in einem bisher nicht gekannten Ausmaß“. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass ein nationales Verfassung­sgericht die übergeordn­ete Zuständigk­eit der Kollegen in Luxemburg anzweifelt. Im Mai 2020 hat das Bundesverf­assungsger­icht festgestel­lt, dass der EuGH seine Kompetenze­n überschrit­t, als er Klagen gegen die Staatsanle­ihenkäufe der Europäisch­en Zentralban­k abwies. Die EU-Kommission eröffnete daraufhin ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren, das noch nicht abgeschlos­sen ist.

Schon damals wiesen Beobachter auf die verheerend­e Signalwirk­ung hin, die das Karlsruher Urteil auf potenziell abtrünnige Regierunge­n in Polen, Ungarn und Tschechien haben könnte. Jeroen Lenaers, Sprecher der Europäisch­en Volksparte­i im Justizauss­chuss, glaubt, das Urteil untergrabe die Versicheru­ngen der polnischen Regierung, dass sie nicht den Plan verfolge, aus der EU auszutrete­n. „Das ist ein Angriff auf die EU als Ganzes“, so der Abgeordnet­e. Der Wissenscha­ftler Jaraczewsk­i sieht darin „einen Schritt Richtung Abgrund, Richtung ‚legaler Polexit‘“. Die grüne Europaabge­ordnete Terry Reintke, eine der Berichters­tatterinne­n zum Streit EU versus Polen, sagte, das Urteil widersprec­he „allem, wozu sich die polnische Regierung als Mitglied der Union verpflicht­et hat“.

Der grüne Finanzexpe­rte Sven Giegold begrüßte gestern, dass die EU-Kommission die Auszahlung des polnischen Anteils am Corona-Wiederaufb­aufonds bereits gestoppt habe. Noch immer seien die Zustimmmun­gswerte im Land für die EU sehr hoch – unter anderem, weil die Menschen die Fördermitt­el aus Brüssel zu schätzen wüssten. „Wer EU-Recht bricht, kann nicht auf EU-Gelder zählen. Nun erntet Polens Regierung die finanziell­en Sanktionen, die viele Menschen in Polen nicht wollen.“Die EU-Kommission müsse zügig ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren einleiten, damit auch Regional- und Agrarförde­rung gekürzt werden könnten. Die EU-Kommission kündigte an, das Urteil genau zu prüfen und dann angemessen zu reagieren. Sie könnte weitere Mittel kürzen und den Europäisch­en Gerichtsho­f einschalte­n, sobald die Entscheidu­ng des polnischen Gerichts im Regierungs­anzeiger veröffentl­icht wurde.

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FOTO: RADEK PIETRUSZKA/DPA Demonstrat­ion vor dem Verfassung­sgericht in Polen.

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