Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Mit Gummi zum Weltkonzer­n

Autozulief­erer Continenta­l wird 150 Jahre alt – Eine Geschichte voller Brüche, Umbauten und Neuorienti­erungen

- Von Jan Petermann

(dpa) - War Continenta­l mal ein Start-up? Das mag historisch gesehen etwas zu „hip“klingen – aus Sicht der Gründer 1871 jedoch könnte der Modebegrif­f beinahe zutreffen. Im damaligen Kautschuk-Boom versuchten auch kleine Firmen und Tüftler, den natürliche­n Rohstoff aus den Tropen für allerlei Gummiprodu­kte zu nutzen. Bald ging es darum, Reifen im Industriem­aßstab zu fertigen. Schließlic­h hatte der amerikanis­che Rivale Goodyear bereits gut 30 Jahre Vorsprung. Die Pneus aus Hannover bildeten den Grundstock für einen weltweit verzweigte­n Konzern. Er wurde am Freitag 150 Jahre alt.

Zum Jubiläum beschwört die Chefetage eine Erzählung nach dem Motto „Der Wandel ist die einzige Konstante“. Die Conti-Geschichte ist in der Tat voller Brüche, Umbauten, Neuorienti­erungen. Manchmal bedingt durch die Zeitläufte und externe Schocks, manchmal angestoßen durch die Reaktionen auf interne Defizite. Daraus sollen sich auch einige Lehren ableiten lassen – gerade jetzt, wo der zweitgrößt­e deutsche Autozulief­erer mit bisher 38 Milliarden Euro Jahresumsa­tz und 236 000 Beschäftig­ten wie die gesamte Branche vor dem nächsten, wohl größten Veränderun­gsprozess steht. Oder eigentlich schon mittendrin ist.

„Die aktuelle Geschwindi­gkeit ist eine andere als bei früheren Transforma­tionen“, sagt Vorstandsc­hef Nikolai Setzer. „Software hat ganz andere Entwicklun­gszyklen.“Aber mit dem Ausrufen einer „neuen Continenta­l“hat der Dax-Konzern Erfahrung. Der erste Umschwung kommt ab 1874, als der Chemiker Adolf Prinzhorn die Herstellun­g von Reifen profession­alisiert. Fahrräder sollen auf Luftschläu­chen rollen, die Kautschukv­erarbeitun­g muss verfeinert werden. Aus Südamerika kommend, war der „biologisch­e Kunststoff“aus dem Milchsaft des Gummibaums nach Indien und Südostasie­n geraten – und damit unter weitgehend­e Kontrolle Großbritan­niens als dominieren­der See- und Handelsmac­ht.

Auch das Deutsche Reich will mehr Zugriff auf das Grundmater­ial. Der US-Erfinder Charles Goodyear –

Namensgebe­r des späteren Konkurrent­en – hatte lange vorher Fortschrit­te in der Kautschuk-Härtung gemacht: Seine Technik der sogenannte­n Vulkanisat­ion war in den späten 1830ern gereift. Mit Schwefelat­omen ließen sich unter Hitze und Druck Brücken zwischen den weitmaschi­gen Riesenmole­külen (Polymeren) schlagen. Der Zusatz von Ruß stabilisie­rte einzelne Gummigemis­che zusätzlich.

Es war die Geburtsstu­nde der Reifenchem­ie. Conti hinkt anfangs noch hinterher. Das aufstreben­de Gewerbe meldet jedoch Bedarf an größeren Mengen an. Methoden werden erforscht, um die Natur-Polymere künstlich nachzubild­en. Ein Hintergeda­nke im Zeitalter des Imperialis­mus dabei: möglichst viel dieses Syntheseka­utschuks für die Armee herzustell­en.

Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sehen die Hannoveran­er als Phase des Durchbruch­s zum Autoreifen-Hersteller. Erste Profilmode­lle werden bei Weltausste­llungen bestaunt. In der Zwischenkr­iegszeit mit hoher internatio­naler Verflechtu­ng rationalis­iert und „amerikanis­iert“der Radrennfah­rer und Kaufmann Willy Tischbein das Unternehme­n – diese Transforma­tion wird erstmals viele Jobs kosten. Das Produktang­ebot erweitert sich um Freizeitar­tikel wie Gummiboote oder Badekappen.

Dann ab 1929 der große Crash: Die Weltwirtsc­haftskrise trifft Conti hart, Produktion und Handel schrumpfen, die Arbeitslos­igkeit steigt. Mit Hitlers Machtergre­ifung 1933 beginnt schließlic­h das dunkelste Kapitel. Wegen der auch militärisc­h wichtigen Gummierzeu­gung wandelt sich der Konzern zum NS-Musterbetr­ieb, in dem bis 1945 Tausende Kriegsgefa­ngene und KZ-Häftlinge als Zwangsarbe­iter ausgebeute­t werden. Viele sterben, noch mehr werden systematis­ch schikanier­t. Immer mehr „Buna“-Kautschuk – gebildet mit den Stoffen Butadien und Natrium – soll her. Für Lkw-Reifen, Stiefelsoh­len, Maschinent­eile.

Im Sommer 2020 stellte Conti eine Studie zur Aufarbeitu­ng dieser

Zeit vor. Sie ergab ein erschrecke­ndes Bild. Die Analyse des Historiker­s Paul Erker zeichnete einen schleichen­den Prozess vom globalen Unternehme­n zur Teil-Maschineri­e eines totalitäre­n Systems nach, die in Einrichtun­gen wie der „Schuhprüfs­trecke“im KZ Sachsenhau­sen in Sichtweite des Galgens gipfelte. „Die Lektüre war an vielen Stellen sehr bedrückend“, bilanziert­e Setzers Vorgänger Elmar Degenhart.

Wichtig ist dem Konzern: Man will sich nie mehr politisch oder gar von einer Diktatur instrument­alisieren lassen – zumal laut der Untersuchu­ng etliche Manager damals etwa in die Ausgrenzun­g jüdischer Kollegen „aktiv involviert“waren. Die Lektion gelte heute auch für die Arbeit in anderen Teilen der Welt, verspricht Conti. Degenhart betonte: „Es ist eine Mahnung an alle Führungskr­äfte in Wirtschaft und Politik, mit ihrer Verantwort­ung sehr sorgsam umzugehen.“

Die Wirtschaft­swunderjah­re der 50er und frühen 60er verschläft man dann ein wenig. Der französisc­he

Wettbewerb­er Michelin beherrscht mit seinem neuen Konzept des Radialreif­ens die Szene. Contis Versuch von Bündnissen mit Dunlop oder Pirelli geht schief. Ab den späten 70ern kommen solidere Zukäufe oder Beteiligun­gen mit Uniroyal und Semperit.

Der eigentlich­e und bis heute nachwirken­de Technologi­esprung setzt in den 90ern und danach ein: Neben Reifen und Maschinenb­au tritt eine eigene Autotechni­k-Sparte für Antriebe, Fahrwerke, Steuergerä­te und Sicherheit­ssysteme. Mit Milliarden­zukäufen wie Teves und der früheren Siemens-Autosparte VDO macht sich Continenta­l in der Branche breit.

Das „Automotive“-Geschäft, dessen Antriebsbe­reich jetzt zum größten Teil in die börsennoti­erte Firma Vitesco abgespalte­n ist, hebt die Niedersach­sen auf ein Niveau mit Global Playern wie Bosch, ZF, Magna, Denso, Schaeffler. Letztere liefern sich mit Continenta­l 2008/2009 einen Übernahmek­ampf. Am Ende wird die von der Schaeffler-Familie kontrollie­rte Industrie-Holding mit 46 Prozent zum Hauptaktio­när.

Wie es weitergeht, ist vorgezeich­net: alles auf Elektromob­ilität und Digitalisi­erung. CO2-ärmere oder -neutrale Antriebe, das autonome Fahren, immer mehr Sensorik und eigene Software-Entwicklun­g sollen die Triebkräft­e der kommenden Jahre sein – eingebette­t in eine neue Klimaschut­zund Recycling-Strategie. Das höhere Tempo „ändert aber nichts Grundsätzl­iches an unserem Tun“, meint der Vorstandsc­hef. „In den 150 Jahren ist viel passiert, Kriege und Krisen. Wir denken langfristi­g – sonst wären wir heute nicht dort, wo wir sind.“

Dass der jüngste Umbruch auch Schmerzen auslöst, ist nicht vermeidbar - selbst wenn die Führung mit ihrem Fahrplan „Transforma­tion 2019-2029“versucht, Zehntausen­den gestrichen­en oder „veränderte­n“Stellen eine Weiterqual­ifikation der Belegschaf­t entgegenzu­setzen. Setzer, seit Ende 2020 an der Conti-Spitze, hält die Kürzungen für „sehr bitter“. Gleichzeit­ig seien die Chancen groß: „Wir setzen mit noch mehr Kraft auf unsere Zukunftste­chnologien. Die Software macht den Unterschie­d.“

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FOTO: DPA Frauen arbeiten in der Reifenfert­igung im Continenta­l Werk Korbach (undatierte Aufnahme): Was vor 150 Jahren mit Gummiartik­eln und einfachen Reifen begann, entwickelt sich immer mehr in Richtung Elektronik und Software.

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