Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die Statik muss stimmen
Der Weg zu einer guten Beinprothese ist mühsam – Das sollten Betroffene beachten
Die Paralympics in Tokio ließen wieder einmal staunen. Mit eiserner Disziplin und Ausdauer kämpften Menschen mit Behinderung um Medaillen. Darunter auch Johannes Floors. Der an beiden Unterschenkeln amputierte Athlet errang im 400Meter-Sprint die Goldmedaille. Solche Spitzenleistungen belegen aber nicht nur Trainingsausdauer und Leistungswille, sondern auch den hohen Standard moderner Prothesentechnik. Das kann allerdings zu unrealistischen Vorstellungen bei Menschen führen, denen eine Amputation bevorsteht oder die frisch operiert wurden. Als Voraussetzung für eine gute Rehabilitation beinamputierter Menschen sind deshalb neben einer ausführlichen Information die richtige Auswahl sowie die genaue Anpassung der Prothese wichtig.
„Ich habe eine 91-jährige Patientin, die wollte nach einer Oberschenkelamputation unbedingt wieder reiten“, erklärt Professor Bernhard Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am RehaKlinikum Bad Rothenfelde und Mitglied im Gesamtvorstand der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). So wurde die Patientin zunächst auch mit einer hochmodernen Prothese mit flexiblem Knie probeweise versorgt, aber sie kam damit nicht zurecht. Ein weniger kompliziertes, dafür aber ihr mehr
Standsicherheit bietendes Modell fand dann ihre Zustimmung. Auf der Homepage der Universität Heidelberg steht es auch klipp und klar: „Bei aller Euphorie für die neuen Entwicklungen, seien es Karbonfederfüße, Stoßdämpfer oder computergesteuerte Kniegelenke, wird leider mitunter vergessen, dass die Grundvoraussetzung für eine gute Prothese immer noch ein perfekt sitzender Schaft ist.“Greitemann ergänzt: „Auch die gesamte Statik der Prothese muss stimmen“. Denn letztlich soll sie dem Träger nicht nur den aufrechten Gang ermöglichen, sondern auch die einseitige Belastung des Körpers verhindern.
Da es kein Amputationsregister gibt, liegen keine genauen Daten über die Anzahl der Amputationen und Prothesenträger in Deutschland vor. Nach Schätzungen der Kostenträger kommt es aber jährlich zu 40 000 bis 60 000 Beinamputationen. 85 Prozent davon gehen auf Diabetes oder arterielle Verschlusskrankheiten zurück, die restlichen 15 Prozent auf Tumore, Infektionen oder Unfälle. Während es bei einem schweren Unfall vor allem um lebensrettende Maßnahmen geht und der Chirurg deshalb schnell handeln muss, kann sich der Patient bei einer geplanten Operation vorab informieren. Sehr hilfreich ist dabei das sogenannte Peer Counseling, eine Beratung von Betroffenen für Betroffene. An großen Tumorzentren und Unfallkliniken sind sie anzutreffen. Zudem veröffentlicht der Bundesverband für Menschen mit Arm- und Beinamputationen auf seiner Homepage unter www.bmab.de unter anderem auch eine Peer-Landkarte zur schnellen Übersicht.
Die Aufgabe von Peer Counseling ist es, die Abläufe rund um Operation, Reha und Prothesenversorgung vorzustellen. Vorteil: Es ist eine Beratung auf Augenhöhe, und die Beratenden können auf das eigene Beispiel verweisen. Ihre Aufgabe soll es aber nicht sein, so Greitemann, durch die Vorstellung neuester High-TechProdukte inklusive mikroprozessorgesteuerter Hydraulik und verschiedenen Messsensoren falsche Hoffnungen zu wecken.
Eine bevorstehende Amputation ist sicherlich für jeden Patienten eine psychisch stark belastende Situation. „Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die im Kontakt mit Peer-Gruppen stehen, weniger Angst vor der Operation haben und in der Reha auch besser mitmachen“, sagt Greitemann. Er empfiehlt auch, vor der Amputation die Muskulatur der Arme und des gesunden Beines zu trainieren, was nach dem Eingriff bei den Übungen und ersten Gehversuchen am Barren hilfreich sei.
„Eine Amputation ist keine Anfängeroperation und bedarf besonderer Erfahrungen in der Amputationschirurgie und Prothetik“, heißt es in den „Leitlinien zur Rehabilitation nach Majoramputationen an der unteren Extremität“, zu deren Autoren auch Greitemann zählt. Deshalb sollte der Operateur auch über die Problematik sämtlicher Amputationshöhen Bescheid wissen sowie über Basiskenntnisse der Prothesenversorgung und der Anforderungen von Schaftsystemen an die Stumpfgestaltung verfügen, heißt es dort weiter.
Wichtig ist nach der Operation, dass zunächst einmal der Stumpf richtig versorgt wird. Dabei ist auch auf eine korrekte Stumpflagerung zur Vermeidung von Kontrakturen, also Schrumpfungen, zu achten. In der physiotherapeutischen Behandlung soll dann die Stützkraft und das Stehen auf dem erhaltenen Bein trainiert werden. Auch die psychologische Betreuung des amputierten Patienten spielt eine große Rolle bei der Verarbeitung des Eingriffs.
Nach der Operation empfiehlt Greitemann vor allem bei älteren Patienten mit einer hohen Amputation die Verlegung in eine Reha-Einrichtung und zwar ohne Prothese. Erst nach einem Rückgang der Schwellung hält er die Anfertigung einer Interims-Prothese für sinnvoll. Das ist in der Regel vier bis sechs Wochen nach der Operation möglich. Bei Diabetespatienten kann es etwas länger dauern. Wenn in der weiterbehandelnden Klinik die Prothese angefertigt werde, könnten dann dort vor Ort auch die notwendige Prothesenkorrekturen, etwa durch Volumenänderungen
des Stumpfes, gemacht werden.
Welche Prothese schließlich für welche Bedürfnisse die richtige ist, hängt einmal vom Alter und den Vorerkrankungen des Patienten ab und dann auch von seiner Mobilität. Da gibt es die Innenbereichsgeher, das sind Menschen, die sich mit der Prothese nur noch im häuslichen Umfeld auf ebenem Boden kurz bewegen.
Die nächste Klasse sind die eingeschränkten Außenbereichsgeher. Diese können eine gewisse Zeit im Haus, im Garten oder auch in der näheren Umgebung gehen. Auch ein Restaurantbesuch ist durchaus möglich. Die uneingeschränkten Außenbereichsgeher können auf unebenen Böden und im freien Gelände unterwegs sein und einen Beruf ausüben.
Die höchste Klasse sind die uneingeschränkten Außenbereichsgeher mit besonders hohen Ansprüchen – dazu zählen etwa Sportler. Leider gibt es auch Menschen, die nach der Amputation auf den Rollstuhl angewiesen sind. Doch auch sie können mit einer Prothese versorgt werden, zum Beispiel zur Pflegeerleichterung oder auch aus kosmetischen Gründen.
Die Prothesen-Verordnung liegt in der Verantwortung des Arztes. Allerdings wird er sich dabei mit seinem Team aus Bewegungstherapeuten und Orthopädietechnikern absprechen und auch den Patienten nach seinen Erwartungen und Ansprüchen befragen. In der Regel übernehmen die Kassen auch alle Kosten für die Prothese. Fällt ein Kostenvoranschlag sehr hoch aus – bei High-TechProdukten ist ein Preis bis knapp 60 000 Euro schon mal möglich – muss mit Nachfragen des Kostenträgers gerechnet werden.
Für den Professor der Münsterlandklinik ist aber eines sicher. Das aufrechte Stehen und Gehen ist für die Patienten ein bedeutendes, psychisches Erlebnis. Auch wenn der Weg dorthin mühsam ist.
Informationen zum Thema Amputation finden sich auf der Website des Bundesverbands für Menschen mit Arm- oder Beinamputationen