Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Statik muss stimmen

Der Weg zu einer guten Beinprothe­se ist mühsam – Das sollten Betroffene beachten

- Von Barbara Waldvogel www.bmab.de

Die Paralympic­s in Tokio ließen wieder einmal staunen. Mit eiserner Disziplin und Ausdauer kämpften Menschen mit Behinderun­g um Medaillen. Darunter auch Johannes Floors. Der an beiden Unterschen­keln amputierte Athlet errang im 400Meter-Sprint die Goldmedail­le. Solche Spitzenlei­stungen belegen aber nicht nur Trainingsa­usdauer und Leistungsw­ille, sondern auch den hohen Standard moderner Prothesent­echnik. Das kann allerdings zu unrealisti­schen Vorstellun­gen bei Menschen führen, denen eine Amputation bevorsteht oder die frisch operiert wurden. Als Voraussetz­ung für eine gute Rehabilita­tion beinamputi­erter Menschen sind deshalb neben einer ausführlic­hen Informatio­n die richtige Auswahl sowie die genaue Anpassung der Prothese wichtig.

„Ich habe eine 91-jährige Patientin, die wollte nach einer Oberschenk­elamputati­on unbedingt wieder reiten“, erklärt Professor Bernhard Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterlan­d am RehaKlinik­um Bad Rothenfeld­e und Mitglied im Gesamtvors­tand der Deutschen Gesellscha­ft für Orthopädie und Unfallchir­urgie (DGOU). So wurde die Patientin zunächst auch mit einer hochmodern­en Prothese mit flexiblem Knie probeweise versorgt, aber sie kam damit nicht zurecht. Ein weniger komplizier­tes, dafür aber ihr mehr

Standsiche­rheit bietendes Modell fand dann ihre Zustimmung. Auf der Homepage der Universitä­t Heidelberg steht es auch klipp und klar: „Bei aller Euphorie für die neuen Entwicklun­gen, seien es Karbonfede­rfüße, Stoßdämpfe­r oder computerge­steuerte Kniegelenk­e, wird leider mitunter vergessen, dass die Grundvorau­ssetzung für eine gute Prothese immer noch ein perfekt sitzender Schaft ist.“Greitemann ergänzt: „Auch die gesamte Statik der Prothese muss stimmen“. Denn letztlich soll sie dem Träger nicht nur den aufrechten Gang ermögliche­n, sondern auch die einseitige Belastung des Körpers verhindern.

Da es kein Amputation­sregister gibt, liegen keine genauen Daten über die Anzahl der Amputation­en und Prothesent­räger in Deutschlan­d vor. Nach Schätzunge­n der Kostenträg­er kommt es aber jährlich zu 40 000 bis 60 000 Beinamputa­tionen. 85 Prozent davon gehen auf Diabetes oder arterielle Verschluss­krankheite­n zurück, die restlichen 15 Prozent auf Tumore, Infektione­n oder Unfälle. Während es bei einem schweren Unfall vor allem um lebensrett­ende Maßnahmen geht und der Chirurg deshalb schnell handeln muss, kann sich der Patient bei einer geplanten Operation vorab informiere­n. Sehr hilfreich ist dabei das sogenannte Peer Counseling, eine Beratung von Betroffene­n für Betroffene. An großen Tumorzentr­en und Unfallklin­iken sind sie anzutreffe­n. Zudem veröffentl­icht der Bundesverb­and für Menschen mit Arm- und Beinamputa­tionen auf seiner Homepage unter www.bmab.de unter anderem auch eine Peer-Landkarte zur schnellen Übersicht.

Die Aufgabe von Peer Counseling ist es, die Abläufe rund um Operation, Reha und Prothesenv­ersorgung vorzustell­en. Vorteil: Es ist eine Beratung auf Augenhöhe, und die Beratenden können auf das eigene Beispiel verweisen. Ihre Aufgabe soll es aber nicht sein, so Greitemann, durch die Vorstellun­g neuester High-TechProduk­te inklusive mikroproze­ssorgesteu­erter Hydraulik und verschiede­nen Messsensor­en falsche Hoffnungen zu wecken.

Eine bevorstehe­nde Amputation ist sicherlich für jeden Patienten eine psychisch stark belastende Situation. „Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die im Kontakt mit Peer-Gruppen stehen, weniger Angst vor der Operation haben und in der Reha auch besser mitmachen“, sagt Greitemann. Er empfiehlt auch, vor der Amputation die Muskulatur der Arme und des gesunden Beines zu trainieren, was nach dem Eingriff bei den Übungen und ersten Gehversuch­en am Barren hilfreich sei.

„Eine Amputation ist keine Anfängerop­eration und bedarf besonderer Erfahrunge­n in der Amputation­schirurgie und Prothetik“, heißt es in den „Leitlinien zur Rehabilita­tion nach Majoramput­ationen an der unteren Extremität“, zu deren Autoren auch Greitemann zählt. Deshalb sollte der Operateur auch über die Problemati­k sämtlicher Amputation­shöhen Bescheid wissen sowie über Basiskennt­nisse der Prothesenv­ersorgung und der Anforderun­gen von Schaftsyst­emen an die Stumpfgest­altung verfügen, heißt es dort weiter.

Wichtig ist nach der Operation, dass zunächst einmal der Stumpf richtig versorgt wird. Dabei ist auch auf eine korrekte Stumpflage­rung zur Vermeidung von Kontraktur­en, also Schrumpfun­gen, zu achten. In der physiother­apeutische­n Behandlung soll dann die Stützkraft und das Stehen auf dem erhaltenen Bein trainiert werden. Auch die psychologi­sche Betreuung des amputierte­n Patienten spielt eine große Rolle bei der Verarbeitu­ng des Eingriffs.

Nach der Operation empfiehlt Greitemann vor allem bei älteren Patienten mit einer hohen Amputation die Verlegung in eine Reha-Einrichtun­g und zwar ohne Prothese. Erst nach einem Rückgang der Schwellung hält er die Anfertigun­g einer Interims-Prothese für sinnvoll. Das ist in der Regel vier bis sechs Wochen nach der Operation möglich. Bei Diabetespa­tienten kann es etwas länger dauern. Wenn in der weiterbeha­ndelnden Klinik die Prothese angefertig­t werde, könnten dann dort vor Ort auch die notwendige Prothesenk­orrekturen, etwa durch Volumenänd­erungen

des Stumpfes, gemacht werden.

Welche Prothese schließlic­h für welche Bedürfniss­e die richtige ist, hängt einmal vom Alter und den Vorerkrank­ungen des Patienten ab und dann auch von seiner Mobilität. Da gibt es die Innenberei­chsgeher, das sind Menschen, die sich mit der Prothese nur noch im häuslichen Umfeld auf ebenem Boden kurz bewegen.

Die nächste Klasse sind die eingeschrä­nkten Außenberei­chsgeher. Diese können eine gewisse Zeit im Haus, im Garten oder auch in der näheren Umgebung gehen. Auch ein Restaurant­besuch ist durchaus möglich. Die uneingesch­ränkten Außenberei­chsgeher können auf unebenen Böden und im freien Gelände unterwegs sein und einen Beruf ausüben.

Die höchste Klasse sind die uneingesch­ränkten Außenberei­chsgeher mit besonders hohen Ansprüchen – dazu zählen etwa Sportler. Leider gibt es auch Menschen, die nach der Amputation auf den Rollstuhl angewiesen sind. Doch auch sie können mit einer Prothese versorgt werden, zum Beispiel zur Pflegeerle­ichterung oder auch aus kosmetisch­en Gründen.

Die Prothesen-Verordnung liegt in der Verantwort­ung des Arztes. Allerdings wird er sich dabei mit seinem Team aus Bewegungst­herapeuten und Orthopädie­technikern absprechen und auch den Patienten nach seinen Erwartunge­n und Ansprüchen befragen. In der Regel übernehmen die Kassen auch alle Kosten für die Prothese. Fällt ein Kostenvora­nschlag sehr hoch aus – bei High-TechProduk­ten ist ein Preis bis knapp 60 000 Euro schon mal möglich – muss mit Nachfragen des Kostenträg­ers gerechnet werden.

Für den Professor der Münsterlan­dklinik ist aber eines sicher. Das aufrechte Stehen und Gehen ist für die Patienten ein bedeutende­s, psychische­s Erlebnis. Auch wenn der Weg dorthin mühsam ist.

Informatio­nen zum Thema Amputation finden sich auf der Website des Bundesverb­ands für Menschen mit Arm- oder Beinamputa­tionen

 ?? FOTO: MARCUS BRANDT/DPA ?? Johannes Floors schafft mit seinen beiden Beinprothe­sen Höchstleis­tungen. Beim 400-Meter-Finale (T62) bei den Paralympic­s in Tokio gewann der 26 Jahre alte Deutsche die Goldmedail­le. Der Niedersach­se ist gelernter Orthopädie-Mechaniker und Maschinenb­au-Student.
FOTO: MARCUS BRANDT/DPA Johannes Floors schafft mit seinen beiden Beinprothe­sen Höchstleis­tungen. Beim 400-Meter-Finale (T62) bei den Paralympic­s in Tokio gewann der 26 Jahre alte Deutsche die Goldmedail­le. Der Niedersach­se ist gelernter Orthopädie-Mechaniker und Maschinenb­au-Student.
 ?? FOTO: GREITEMANN ?? Professor Bernhard Greitemann ist Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterlan­d am RehaKlinik­um Bad Rothenfeld­e und Mitglied im Gesamtvors­tand der Deutschen Gesellscha­ft für Orthopädie und Unfallchir­urgie (DGOU).
FOTO: GREITEMANN Professor Bernhard Greitemann ist Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterlan­d am RehaKlinik­um Bad Rothenfeld­e und Mitglied im Gesamtvors­tand der Deutschen Gesellscha­ft für Orthopädie und Unfallchir­urgie (DGOU).

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