Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der Handschlag ist zurück

Nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie wird weltweit wieder geschüttel­t

- Von Sophia Weimer

(dpa) - Mal ist es ein ganz besonderer Moment, mal noch unsicher: Soll ich oder nicht? Der Handschlag ist zurück – und das, obwohl so viele ihn schon nach wenigen Monaten Pandemie eigentlich totgesagt hatten. Namaste, Ellenbogen­check und Co. fühlen sich auch nach zwei Jahren noch nicht richtig an. Zu tief sitzt das Ritual – wenn die Handfläche­n ineinander greifen, die Finger sich berühren, die Blicke sich treffen. Wieso machen wir das eigentlich?

Eine so lange kulturelle Tradition, die ändere sich nicht mal eben in zwei Jahren Pandemie, sagt Martin Grunwald. Er ist Psychologe und leitet das Haptik-Forschungs­labor an der Uni Leipzig. „Erst über sogenannte Vollkontak­t-Informatio­nen versichern wir uns, dass der andere wirklich existiert, wirklich da ist. Allen anderen Sinnen kann man nicht so sehr trauen.“Und schließlic­h sei der Mensch ein sogenannte­s nesthocken­des Säugetier. „Wir wachsen ganz stark mit körperlich­en Interaktio­nen auf und sind entspreche­nd auf Körperkont­akt zu anderen angewiesen.“Besonders jetzt, nachdem vieles nur online stattfand, sehnt sich der Berührungs­sinn nach Anregung.

Doch auch, wer sich mit der Faust oder per Ellenbogen begrüßt, berührt den anderen – nur anders. Reicht das nicht? „Das ist ein ganz anderes Körpergefü­hl, nichts Warmes, nichts Weiches. Sehr hart, knochig“, sagt Grunwald. Beides sei nur ein Kompromiss. Der Wissenscha­ftler findet es erstaunlic­h, dass man schon zu Beginn der Pandemie solche Kompromiss­e gesucht und nicht einfach komplett auf körperlich­e Begrüßungs­rituale verzichtet habe. Soziokultu­rell wird dem Sich-dieHandgeb­en noch eine andere Bedeutung zugeschrie­ben, „Das signalisie­rt „Ich komme in Frieden“und „Ich bin waffenlos“, sagt Grunwald.

Wie tief das Ritual Handschlag für uns ist, das zeigen Situatione­n, die sich die meisten vor der Pandemie wohl in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnten. Man erinnere sich an die damalige Bundeskanz­lerin Angela Merkel und ihren Innenminis­ter Horst Seehofer. Bei einem Treffen Anfang März 2020 hob Seehofer entschuldi­gend abwehrend die Hände, als Merkel mit ausgestrec­kter Hand auf ihn zuging. Die Kanzlerin erkannte das, was neuerdings quasi ein Missgeschi­ck war, sofort – zog die Hand zurück und beide lachten.

Nach einigen Corona-Monaten klagte der britische Sänger Ronan Keating: „Ich fürchte, wir werden uns weniger berühren, es wird vielleicht auch weniger Wärme geben“, sagte der Popstar im Juli 2020. „Ein guter Handschlag bedeutet einfach etwas.“Und siehe da: Selbst Politiker – und sogar die britische Königin Elizabeth

– gaben sich in den vergangene­n Wochen schon wieder herzlich die Hand. Die Szene zwischen Bundeskanz­ler Olaf Scholz und dem britischen Premiermin­ister Boris Johnson dürften viele aus ihrem Alltag kennen: Einer reicht die Hand, der andere bietet erstmal noch die Faust zum Gruß.

Tatsächlic­h brauche der Mensch den Handschlag nicht unbedingt, wohl aber die Begrüßung quasi als Friedensze­ichen, sagt die Verhaltens­biologin Imme Gerke. Und doch ist das Handgeben, was viele schon seit der Kindheit machen, essenziell: „Wir müssen mit der Geste vertraut sein, damit sie ihren beruhigend­en Effekt auf uns ausübt.“Was gut gemeint aber fremd sei, kann auf den anderen sogar bedrohlich wirken. „Deswegen kommt der Handschlag zurück. Er ist uns vertraut. Je vertrauter desto beruhigend­er.“Besonders in südlichere­n Gefilden ist eine andere Geste besonders vertraut: das Küsschen auf die Wange. Und obwohl es noch mehr Nähe mit sich bringt, auch mit Blick auf Infektions­risiken geradezu abenteuerl­ich wirkt – auch dieses Ritual ist wieder da. Die Franzosen begrüßen sich längst wieder mit „Bisous“, die Italiener entdecken langsam aber sicher ihre „Baci“wieder.

Nach zwei Jahren Abstand erscheint vielen aber auch der Händedruck als Berührung mit neuen oder losen Bekannten fast intim. Ist das nicht ganz schön viel Nähe? „Das ist genau der Punkt“, sagt die Expertin. „So viel Nähe zuzulassen ist ein Risiko. Wenn diese riskante Situation gut ausgeht, empfinden wir das als sehr angenehm. So entstehen soziale Bindungen.“

Für den einen oder anderen ist es etwas zu viel Nähe – vor allem nach zwei Jahren grübeln über Viren, Ansteckung­en und Abstand. Diejenigen, die das Händeschüt­teln „jetzt befremdlic­h finden, haben es entweder schon immer befremdlic­h gefunden, das aber in der täglichen Routine überspielt – oder sind sich der Notwendigk­eit und der Funktion der Begrüßung nicht bewusst“, sagt Gerke. Denjenigen rät die Verhaltens­biologin, sich eine andere Form der Begrüßung auszusuche­n und diese so lange zu üben – rund 30-mal allein vorm Spiegel – bis sie sich vertraut anfühlt.

Auch wenn die Bedürfniss­e unterschie­dlich sind – so ganz ohne Anfassen geht es wohl für niemanden. „Wir eignen uns die Umwelt durch Körperkont­akt an“, erklärt Martin Grunwald. Gut zu beobachten sei das zum Beispiel bei Neugeboren­en: „Jeder will ein Baby auf den Arm nehmen. So wird es in der Familie, in der Gesellscha­ft aufgenomme­n.“Sich gegenseiti­g die Hand zu geben sei immer auch ein Informatio­nskanal, sagt Grunwald. „Da spüre ich die Spannung, die Verfassung des anderen.“

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FOTO: AYFUN SALCI/IMAGO Auch Politiker kehren zum Handschlag zurück, wie hier Premiermin­ister Boris Johnson und Bundeskanz­ler Olaf Scholz.

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