Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Rebekka Hartok kämpft ohne Gegner
Die 19-Jährige betreibt Taekwondo-Freestyle – Wie sie mit einem Griff einen Mann überwältigt
- An diesen einen Abend im August 2022 erinnert sich Rebekka Hartok noch ganz genau. Die damals 18-Jährige ist in Berlin mit der U-Bahn unterwegs. Sie kommt gerade vom Training, hat Kopfhörer im Ohr und hört Musik. Plötzlich fängt ein betrunkener Mann neben ihr an, sie zu belästigen. Hartok will ihn ignorieren, doch der Mann reißt ihr die Kopfhörer aus dem Ohr und packt sie fest am Arm. Sie fällt kurz in eine Schockstarre, sammelt sich dann aber und versucht, den Mann zu beruhigen: „Ich habe ihm ganz ruhig und höflich erklärt, dass er mich bitte in Ruhe lassen soll und ich mich darauf nicht einlassen möchte.“Dem Mann ist das egal, er hält sie weiterhin am Arm fest. Hartok hat genug, befreit sich mit Kraft und einer gekonnten Bewegung aus dem Griff des Mannes und flüchtet bei der nächsten Haltestation aus der U-Bahn. „Wenn ich nicht so ruhig geblieben wäre und nicht gezeigt hätte, dass ich mich selbst verteidigen kann, wäre es vielleicht anders ausgegangen“, sagt sie.
Die heute 19-Jährige stammt aus Erisdorf und ist deutsche Meisterin im Taekwondo-Freestyle. Beim TSV Bad Saulgau ist sie in der Abteilung Judo/JiuJitsu/Taekwondo aktiv. Ihre Sportart sei den wenigsten Menschen ein Begriff, sagt Hartok: „Selbst im Taekwondo wissen viele nicht genau, was Taekwondo-Freestyle ist.“Vom klassischen Taekwondo, dem Zweikampf, unterscheidet sich Taekwondo-Freestyle nämlich in einem wesentlichen Punkt: Es gibt keinen Gegner. Anstatt auf eine andere Kämpferin zielen Hartoks Kicks in die Luft. Bei ihren Wettkämpfen präsentiert sie zu Musik eine Kür aus Kicks und akrobatischen Elementen des Taekwondo. Eine Jury bewertet Technik und Präsentation. „Die Sportart ist wirklich cool und entwickelt sich in Deutschland immer mehr“, sagt Hartok. 2011 fängt sie jedoch mit dem klassischen Taekwondo-Zweikampf an. „Wir sind drei Schwestern zu Hause und meiner Mutter war es immer wichtig, dass wir lernen, uns selbst zu verteidigen“, sagt Hartok. Schon früh ist ihr deshalb bewusst, dass sie einmal beim Kampfsport landen wird. Dass es schließlich Taekwondo wird, ist einem Zufall geschuldet. „Ein Bekannter meiner Familie, der einen Taekwondo-Verein in Ertingen leitet, hat uns beim Hausbau geholfen und dann gefragt, ob wir nicht einfach mal vorbeikommen möchten“, sagt sie. Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester geht sie zum Probetraining, da ist Hartok gerade sieben Jahre alt. Das Training gefällt den Schwestern so gut, dass sie sich bereits am ersten Tag ein ehrgeiziges Ziel setzen: „Wir haben direkt gesagt, dass wir den schwarzen Gürtel wollen.“
Von diesem Tag an betreibt Hartok sechs Jahre lang Taekwondo-Zweikampf. Schon damals ist sie sich bewusst, dass sie aufgrund ihrer erlernten Fähigkeiten eine besondere Verantwortung trägt. „Man lernt das alles nicht, um andere Menschen zu schlagen. Da würde man aus jedem Kampfsport-Verein hochkant rausf liegen. Es geht darum, sich im Fall der Fälle selbst verteidigen zu können, damit man dann nicht dasteht wie ein Reh im Scheinwerferlicht“, sagt sie. Im Alter von 13 Jahren verliert Hartok aber den Spaß am Zweikampf. „Beim Kampf ist es von Vorteil, wenn man groß ist. Ich bin aber irgendwann nicht mehr mit den anderen mitgewachsen“, sagt sie. 2018 wechselt sie den Verein und geht zum TSV Bad Saulgau. Dort steht nicht der Kampf, sondern die Bewegungen des Taekwondo im Vordergrund. Hartok sieht hier gute Chancen, Fuß im TaekwondoFreestyle zu fassen.
Sportlich gesehen die richtige Entscheidung, denn nur drei Jahre später gewinnt sie im Alter von
17 Jahren den deutschen Meistertitel in dieser Disziplin. „Das war 2021 während der Coronapandemie, man musste seine Kür aufnehmen und zur Wertung einschicken“, sagt sie. Dafür fährt sie mit ihrer Familie extra zwei Stunden in eine große Judo-Halle nach
Esslingen, dreht dort das Video und reicht es online ein. Bereits auf der Rückfahrt erfährt sie über das Internet das für sie überraschende Ergebnis. „Auf einmal hat das ganze Auto gebebt, das war unbeschreiblich“, sagt sie. Der noch größere Erfolg ist für
Hartok aber ihr Abschneiden beim German Open in Hamburg Anfang dieses Jahres. Bei dem internationalen Wettbewerb wird sie Zweite, landet direkt hinter der amtierenden Europameisterin.
Obwohl sie weiß, dass sie trotz ihres Erfolgs nie von ihrem Sport wird leben können, betreibt sie einen enormen Aufwand dafür. Dreimal pro Woche trainiert sie in der ABC-Halle in Bad Saulgau und leitet dort zusätzlich eine Gruppe von Kindern im Alter von sechs bis 14 Jahren. Hinzu kommen regelmäßige Trainingseinheiten mit einem Taekwondo-Team in Potsdam, für ihre Wettbewerbe reist sie oft quer durch Europa. „Wenn man seinen Sport liebt und dahintersteht, ist das alles aber keine Qual, sondern man macht das gerne“, sagt Hartok. Zwar fällt es ihr nicht immer leicht, ihren Freunden am Wochenende wegen eines Trainings abzusagen, aber Hartok weiß, wofür sie es tut. „Mein Traum ist es, einmal an einer Europa- oder Weltmeisterschaft teilzunehmen“, sagt sie. Diesen Traum könnte sie sich möglicherweise bereits zur kommenden Europameisterschaft im November erfüllen. „Ganz unrealistisch ist es nicht, aber die Konkurrenz ist hart“, sagt sie. Über die Nominierung entscheidet letztlich der Bundestrainer.
Sollte es im November nicht klappen, hat sich Hartok mittlerweile immerhin einen anderen Traum erfüllt: Den schwarzen Gürtel, den sie sich mit ihrer Schwester nach dem ersten Taekwondo-Training als Ziel gesetzt hatte, hat sie vor drei Jahren erhalten.
Am 7. Juli feiert der TSV Bad Saulgau im Stadtforum in Bad Saulgau sein 175-jähriges Bestehen. Anlässlich dazu stellt die „Schwäbische Zeitung“in einer Serie Gesichter aus den Abteilungen des Turn- und Sportvereins vor.