Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die vergessene­n „Baseballsc­hläger-Jahre“

Martin Rieder setzt sich gegen Rechtsextr­emismus ein — Er überlebt zwei Attacken

- Von Mareike Keiper

- Sie lauerten Menschen auf, die anders waren, störten Konzerte und Veranstalt­ungen, schlugen plötzlich auf der Straße zu. Martin Rieder redet von den „Baseballsc­hläger-Jahren“, wenn er sich an die Zeit Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zurückerin­nert. Damals hat es im Landkreis eine Welle von Angriffen durch Neonazis gegeben, ihr Schwerpunk­t war in Sigmaringe­n, Bad Saulgau und Pfullendor­f. Rieder gehörte damals zu den anderen, zu den Punks, gründete später einen AntifaAkti­onskreis im Landkreis Sigmaringe­n. Der heute 54-Jährige blickt mit Sorge auf die heutigen politische­n Entwicklun­gen, denn obwohl sich die Lage entspannt hat, sieht er gerade wieder beunruhige­nde Tendenzen.

„Ich hatte Glück“, sagt er heute, denn er blieb körperlich verschont. Doch es war knapp. Im Januar 1990 kam es zu einem Brandansch­lag auf sein Elternhaus in Inzigkofen. Die Täter setzten einen Holzschupp­en neben dem Wohnhaus mit Benzin in Brand. Ein Ausbreiten des Feuers verhindert­e im letzten Moment ein Nachbar, der die Flammen löschte. Welche Gruppe dahinter steckte, zeigt ein Spruch, den die Täter an die Hauswand gesprüht haben: „Rotfront verrecke“. Daneben fand sich das Keltenkreu­z, ein Symbol der rechtsextr­emen Szene.

Zum damaligen Zeitpunkt war Rieder längst Teil einer Gegenbeweg­ung. Die ging gegen die rechtsextr­eme Gruppe vor,

die sich rund um den früheren NPD-Aktivisten Paul Weber gescharrt habe und stark gewachsen sei, sagt Rieder: „Sie waren eine starke Gemeinscha­ft und man musste wenig können außer Sprücheklo­pfen. Deshalb hatten sie starken Zustrom, es trat ein Sog-Effekt ein.“Nachdem ein Punk-Konzert der Toy Dolls in Mengen von Skinheads gestört worden war und nur unter „riesigem Polizeiauf­gebot“hatte stattfinde­n können, schrieb Rieder einen Leserbrief, denn ein Artikel in der Zeitung erwähnte den Angriff der Neonazis nur als Randersche­inung der Veranstalt­ung. Die Neonazis machten Rieder aufgrund der Adressanga­be beim Leserbrief

ausfindig, es folgte der Anschlag.

Daraufhin gründete sich der Antifa-Aktionskre­is, der sich laut Rieder zur Aufgabe setzte, sich zu vernetzen, gegen Rechtsextr­eme zu demonstrie­ren und sich zu wehren. „Uns war klar, wir müssen uns organisier­en, denn es wird schlimmer“, so Rieder im Gespräch mit der SZ.

Er sollte recht behalten. Der Anführer der Neonazi-Gruppe suchte Rieders Arbeitspla­tz, das Sigmaringe­r Krankenhau­s auf. Dort macht Rieder damals eine Ausbildung zum Krankenpfl­eger. Der Angreifer täuschte eine Verletzung vor, wurde in die Notaufnahm­e geschickt und verschwand im Klinikgebä­ude. Das Personal fand ihn schließlic­h in einer Küche, in der er sich gerade ein Messer genommen hatte. Rieder kam wieder mit Glück davon: In dieser Nacht hatte er dienstfrei. Die Polizei griff den Anführer auf, er wurde festgenomm­en. „Danach wurde es spürbar ruhiger“, sagt Rieder.

Ein weiterer Vorfall, der half: Bei einem Fest stellte Rieder einen anderen Anführer zur Rede und forderte ihn zum Zweikampf auf. „Doch er hat den Schwanz eingezogen. Der Rest verlor den Respekt vor ihm als Anführer“, so Rieder. Auch das verstärkte Eingreifen der Polizei habe dazu beigetrage­n, die Gruppen zu vertreiben.

Doch es gibt immer noch aktive

Rechtsextr­eme im Kreis Sigmaringe­n, zum Beispiel in Bingen und Sigmaringe­n. Betroffen ist aber auch ein Sicherheit­sdienst in Pfullendor­f. Der Motorradcl­ub „Uncommon Ghost Oberschwab­en“, der laut Recherchen von Rieders Netzwerk 2007 ein Rechtsrock­konzert organisier­t hat, betreibt seit 2016 ein Vereinshei­m in Ostrach.

„Die Szene gibt es weiterhin“, sagt Rieder und zeigt sich umso besorgter im Hinblick auf das Erstarken der AfD. Die Partei schüre Ängste und schlage Lösungen vor, die zu einfach seien. Als Beispiel nennt Rieder die Gasversorg­ung, für die sich Deutschlan­d trotz UkraineKri­eg

wieder von Russland abhängig machen soll. Auch in der übrigen Parteienla­ndschaft gebe es keine klare Haltung: „Die CDU grenzt sich nicht von der AfD ab.“

Umso wichtiger sei es, in der Öffentlich­keit für die Demokratie einzustehe­n – nicht nur auf Demonstrat­ionen, sondern im Alltag. Das macht auch Rieder immer noch, indem er über Rechtsextr­emismus auf klärt und informiert, zusammen mit einer Organisati­on, deren Name er zum Schutz der Mitglieder nicht nennen möchte.

Sein Fazit nach all den Erfahrunge­n: „Wir müssen für die Demokratie kämpfen.“

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FOTO: PRIVAT Die Angreifer hinterlass­en nach dem Brandansch­lag einen Hinweis an der Hauswand von Martin Rieders Elternhaus.
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FOTO: MAREIKE KEIPER Er hat sich gegen die Neonazis gestellt und ist dafür attackiert worden: Martin Rieder.

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