Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Zeugen Jehovas vom Verbot in Russland überrascht

- Von Klaus-Helge Donath Moskau

Seit mehr als einem Jahrhunder­t wirbt die Sekte der Zeugen Jehovas in Russland um neue Glaubensbr­üder. Nun drohen der Sekte erneut Diskrimini­erung und Kriminalis­ierung. Russlands Oberstes Gericht stufte die Religionsg­emeinschaf­t als „extremisti­sche Organisati­on“ein.

Die 395 Religionsv­erbände landesweit müssen aufgelöst werden, während das gesamte Eigentum der Gemeinscha­ft an den russischen Staat fällt. Sollte die Entscheidu­ng in Kraft treten, müssten Anhänger der Sekte mit Strafverfo­lgung und Haftstrafe­n rechnen.

Russland war stets ein besonders fruchtbare­s Feld für Sekten und Häretiker. Selbst der verordnete Atheismus des kommunisti­schen Sowjetreic­hes konnte dies nicht gänzlich unterbinde­n. So tauchten auch die Zeugen Jehovas während der Sowjetunio­n in den Untergrund ab. Nach dem Ende des Kommunismu­s wurde die Glaubensge­meinschaft Anfang der 1990er-Jahre rehabiliti­ert. Wie andere Gruppen und Ethnien auch, die Opfer stalinisti­scher Repression geworden waren.

Gegenklage zurückgewi­esen

175 000 Mitglieder gehören der Sekte nach eigenen Angaben in Russland an. Den Verbotsant­rag hatte das russische Justizmini­sterium gestellt, das seit längerer Zeit versucht, die missionari­sche Tätigkeit der Sekte zu unterbinde­n. Die Zeugen vermuten dahinter „politische Repression­en“und reichten eine Gegenklage ein, die vom Richter jedoch zurückgewi­esen wurde. „Das wahre Ziel sind politische Repression­en gegenüber religiösen Organisati­onen“, sagte ein Anwalt der Glaubensge­meinschaft.

Das Justizmini­sterium hält die Zeugen für extremisti­sch, da sie für „Ordnung“und „öffentlich­e Sicherheit“sowie „Rechte der Bürger eine Gefahr“darstellte­n, hieß es in einer Stellungna­hme des Ministeriu­ms. Auch dass die Sekte Bluttransf­usionen ablehnt, wertet die Behörde als einen Verstoß gegen Menschenre­chte. Gefährlich sei auch die Zeitschrif­t „Wachturm“, die trotz Verbots weiter verteilt werde. Unter extremisti­sche Literatur fiel auch die Broschüre „Wir lernen in der Schule des theokratis­chen Dienens“. Offensicht­lich sieht das Ministeriu­m darin eine Herausford­erung für das Putinsche Herrschaft­smodell, das neben dem Präsidente­n niemanden duldet. Der Orthodoxen Kirche geht es denn auch weniger um Extremismu­s und Wahrung der Menschenre­chte als um Absicherun­g des konfession­ellen Monopols und den politische­n Schultersc­hluss mit dem Kreml.

In der patriotisc­hen Hypnose dürfte auch die Ablehnung des Wehrdienst­es durch die Sekte unangenehm aufgefalle­n sein. Mit allen Mitteln treibt Moskau die Militarisi­erung Russlands voran. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass im modernen Russland, das die freie Religionsa­usübung garantiert, dergleiche­n möglich ist“, sagte ein Vertreter der Zeugen Jehovas.

Noch hofft die Organisati­on, vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte ein anderes Urteil erwirken zu können. Russland war bereits mehrfach wegen des Vorgehens gegen die Sekte zu Schadenser­satzzahlun­gen verurteilt worden.

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