Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Das werde ich in meinem Leben nicht mehr vergessen“

Ex-Kripochef Volker Rittenauer aus Heilbronn über bis heute offene Wunden bei den Ermittlern

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HEILBRONN - Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewette­r ist für die damaligen Ermittler auch zehn Jahre nach dem Verbrechen immer noch ein Trauma. Man könne keinen Frieden schließen mit dem Fall, sagt der frühere Kripochef Volker Rittenauer im Interview mit Helmut Buchholz von der „Heilbronne­r Stimme“. Der 61-jährige war sehr nah an dem Fall.

Zehn Jahre nach dem Polizisten­mord in Heilbronn: Wenn Sie jetzt zurückdenk­en, was fällt Ihnen als Erstes ein?

Die unheimlich nahegehend­e Situation am Tatort auf der Heilbronne­r Theresienw­iese – als der Kollege Martin Arnold lebensgefä­hrlich verletzt mit dem Hubschraub­er abtranspor­tiert wurde und Michèle Kiesewette­r in ihrem Blut lag: Das werde ich in meinem Leben nicht mehr vergessen. Wenn ich da jetzt dran denke, komme ich an emotionale Grenzen. Das merkt man jetzt ...

Sie kämpfen mit den Tränen. Vor Ort am Tatort, das war heftig.

Ja. An Tatorten von Tötungsdel­ikten ist man immer in einer Ausnahmesi­tuation. In dem Fall waren die Opfer noch Kollegen. Das war das, was mich vor Ort auf der Heilbronne­r Theresienw­iese so bewegt hat. Und nicht nur mich. Auch alle Kollegen die draußen waren und nachher in der Sonderkomm­ission.

Kannten Sie die Opfer?

Nein. Michèle Kiesewette­r und Martin Arnold kamen von der Bereitscha­ftspolizei aus Böblingen und unterstütz­ten die Heilbronne­r Polizei im Rahmen der Kontrollak­tionen „Sichere City“.

Sie sind jetzt pensionier­t. Doch der Fall geht Ihnen nicht aus dem Kopf, bewegt Sie bis heute?

Ja.

Was Sie erlebt haben, das legt man nach Feierabend nicht einfach ab wie die Uniform.

Es gibt einige Kollegen, die dauerhafte – ich will jetzt nicht sagen Schäden – aber Einflüsse auf ihre Emotionen mitgenomme­n haben – bis heute. Insbesonde­re die Kollegen, die ganz eng mit dem Fall zu tun hatten. Da gab es Nackenschl­äge, auch durch die Medien und ihre Berichters­tattung, die haben Ohrfeigen verteilt, die die Kollegen teilweise bis heute nicht weggesteck­t haben. Die haben es einigermaß­en verarbeite­t, aber es ist immer noch da. Man kann damit keinen Frieden schließen. Und das kommt jetzt an den Jahrestage­n des Polizisten­mordes wieder hoch. Die Kollegen sind auch nur Menschen und fragen sich: Was hätte ich noch machen können? Es gab allein in der Sonderkomm­ission innerhalb von drei Monaten 8000 Überstunde­n. Die Belastung war enorm.

Hängen diese Nackenschl­äge auch mit der sogenannte­n Wattestäbc­hen-Panne zusammen?

Diese Trugspur am Untersuchu­ngsmateria­l hat im Grunde das Ganze noch potenziert.

Sie meinen die Suche nach dem sogenannte­n Phantom, das die Heilbronne­r Soko unbekannte weibliche Person – kurz „uwP“– genannt hat und die sich später als Verpackeri­n in der Hersteller­firma der Wattestäbc­hen herausstel­lte.

Wir hatten ja am Ende, ich weiß nicht, mehr als 40 Spuren dieser uwP an verschiede­nen Tatorten in mehreren Bundesländ­ern, sogar im Ausland.

Die DNA-Treffer des Phantoms wurden immer verrückter. Haben Sie heute eine Erklärung für diese Trugspur? Das Landeskrim­inalamt, das die Spuren in ihrem Institut untersucht hat, hat ja immer ausgeschlo­ssen, dass etwas mit dem Untersuchu­ngsmateria­l nicht stimmt.

Das LKA hat immer versichert, dass das Untersuchu­ngsmateria­l nicht verunreini­gt war. Das hat uns zwar immer innerlich den Rücken gestärkt. Aber da gab es DNA-Treffer bei Tötungsdel­ikten in Idar-Oberstein, in Freiburg und dann beim Diebstahl einer Cola-Dose im Saarland. Gartenhaus­einbrüche. Wir haben uns dann gefragt: Was kommt als nächstes? Was fehlt denn jetzt noch in dieser Palette? Ich möchte deutlich machen, dass wir wegen der angesproch­enen Zweifel lange Zeit zu den Wattestäbc­hen, die zur Spurensich­erung verwendet wurden, Stäbchen aus derselben Packung als Leerproben mitgeschic­kt hatten. Und das heute Unfassbare war, dass die uwP-Spur kein einziges Mal an den Leerproben gefunden wurde, sondern immer nur an den zur Spurensich­erung verwendete­n.

Mir haben Soko-Ermittler berichtet, dass sie mit der Zeit selbst starke Zweifel an den Spuren und der uwP-Theorie hatten.

Absolut. Ich muss aber auch sagen, man hat Priorität auf die uwP gelegt, aber auch andere Komplexe nicht auf die Seite gelegt. Das war ja das, was uns hier in der Heilbronne­r Polizeidir­ektion an die Grenzen gebracht hat. Denn was da liegen blieb, das mussten ja die Kollegen machen, die nicht in der Soko waren.

War das auch der Grund, warum die Soko dann an das Landeskrim­inalamt wechselte. War der Fall zu groß für die Heilbronne­r Polizei?

Wir waren personell am Ende und hatten parallel noch drei weitere Tötungsdel­ikte zu bearbeiten. Wir waren nach zwei Jahren Arbeit 2009 auch am Ende soweit mit den Ermittlung­en im Polizisten­mordfall, sodass wir sagten, was Neues finden wir nicht. Jetzt schauen wir, ob das nicht jemand anders noch mal aufarbeite­n kann. Das ist ja auch so eine Art Controllin­g. Dann sind wir auf das LKA zugegangen, das den Fall auch mit einigen von unseren Leuten übernommen hat. Aber die sind ja auch auf nichts anderes gekommen als wir in Heilbronn.

Wenn wir uns beim 20. Jahrestag wieder treffen, wird die Zeit die Wunden bei Ihnen und Ihren Kollegen mehr geheilt haben oder wird Ihnen dieser Jahrhunder­tfall ewig nachgehen?

Ich persönlich glaube, dass er immer im Hinterkopf bleiben wird. Mit jeder Nachricht vom NSU-Prozess in München läuft der Film im Kopf wieder ab.

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FOTO: ANDREAS VEIGEL Rittenauer an der Gedenkstel­e in Heilbronn.
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FOTO: DPA Bernhard Schmidt kannte Michèle Kiesewette­r schon als Kind.

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