Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Experten bemängeln fehlendes Gesamtkonz­ept gegen Antisemiti­smus

Laut einem neuen Bericht nehmen „klassische“Formen von Judenhass in der Bevölkerun­g ab - doch die Kritik an Israel ist verbreitet

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BERLIN (KNA/dpa) - Der Unabhängig­e Expertenkr­eis Antisemiti­smus beklagt ein fehlendes Gesamtkonz­ept zur Bekämpfung von Judenfeind­lichkeit in Deutschlan­d. Es gebe ein Nebeneinan­der vielfältig­er Projekte gegen Rassismus und Extremismu­s. Jedoch fehle es an Förderung und Koordinati­on, sagte der Direktor des Berliner Anne Frank Zentrums, Patrick Siegele, bei der Vorstellun­g des Expertenbe­richts in Berlin. Abhilfe schaffen könnten ein Antisemiti­smus-Beauftragt­er, eine Bund-Länder-Kommission und mehr Projektund Forschungs­förderung.

Der nach rund zwei Jahren Arbeitszei­t vorgestell­te Bericht beschreibt auf etwa 300 Seiten Formen von Antisemiti­smus unter Deutschen und Migranten. Zudem wurden rund 550 Juden zu ihren Erfahrunge­n mit Antisemiti­smus befragt.

Die jüdische Bevölkerun­g nimmt demnach wachsende antisemiti­sche Tendenzen wahr und fürchtet eine Zunahme. Hier unterschei­de sich die Wahrnehmun­g von der Mehrheitsb­evölkerung. Diese sehe Antisemiti­smus nicht als akut relevantes Problem, sagte die Berliner Antisemiti­smusforsch­erin Juliane Wetzel.

Dabei hatte vor kurzem der Fall eines 14-jährigen jüdischen Berliners für Aufmerksam­keit gesorgt, der an seiner Schule bedroht worden war. Einer der Mitschüler, von denen viele aus türkisch- oder arabischst­ämmigen Familien stammen, soll gesagt haben: „Alle Juden sind Mörder.“

Oft erlebten Juden auch subtilen Antisemiti­smus im Alltag, meist meldeten die Betroffene­n Vorfälle nicht. Aus Sicht der Experten muss die Erfassung antisemiti­scher Straftaten auch vor diesem Hintergrun­d deutlich konsequent­er werden. Zugleich nehmen „klassisch-antisemiti­sche“Haltungen in der Bevölkerun­g ab und wurden zuletzt von fünf Prozent vertreten. Darunter fallen Stereotype wie etwa, dass Juden zu einflussre­ich seien. Auch „sekundärer Antisemiti­smus“– zum Beispiel Vorbehalte gegenüber der Aufarbeitu­ng des Holocaust – sinkt. Er wird von 26 Prozent vertreten.

Ausgeprägt ist indes Israel-bezogener Antisemiti­smus. Dieser wurde dem Bericht zufolge zuletzt von 40 Prozent der Befragten vertreten. Hier komme es auf den Kontext an, hieß es. Wenn Kritik an der israelisch­en Regierung auf das ganze Land bezogen werde, sei die Grenze überschrit­ten, sagte der Direktor der Stiftung Topographi­e des Terrors, Andreas Nachama.

Besonders schwierig sei die Untersuchu­ng zu muslimisch­em Antisemiti­smus. Zwar gebe es bislang wenige Erhebungen, so die Experten, aber die vorliegend­en Studien legten nahe, dass entscheide­nder als die Religion die Sozialisie­rung sei, etwa die Haltung zu Israel im Herkunftsl­and.

Aus Sicht der Experten braucht es ein Monitoring antisemiti­scher Haltungen in verschiede­nen Bevölkerun­gsgruppen. Der Zentralrat der Juden in Deutschlan­d schloss sich der Forderung nach einem Antisemiti­smusbeauft­ragten an. Der Antisemiti­smus müsse auf allen Ebenen sowie in Schulen, Ausbildung und Integratio­nskursen bekämpft werden.

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FOTO: DPA Juden in Deutschlan­d nehmen wachsende antisemiti­sche Tendenzen wahr.

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