Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Daimler könnte straffrei davonkommen
Autobauer aus Stuttgart soll VW mit Selbstanzeige zuvorgekommen sein
BERLIN - Nach den Kartellvorwürfen gegen die großen deutschen Autobauer hat Volkswagen seine Aufsichtsräte „vor dem Hintergrund der aktuellen Situation“kurzfristig für Mittwoch zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen, wie ein Sprecher des weltweit größten Autobauers sagte. Wie das Recherchenetzwerk von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR berichteten, war der ebenfalls unter Kartellverdacht stehende Autobauer Daimlermit seiner Selbstanzeige bei den Wettbewerbsbehörden wegen des mutmaßlichen Kartells Volkswagen zuvorgekommen.
Der Daimler-Konzern habe sich viel früher als Volkswagen an die Behörden gewandt und könne deshalb darauf hoffen, ohne Strafe davonzukommen, falls die Brüsseler EU-Kommission Geldbußen wegen verbotener Absprachen aussprechen sollte. Für VW sei laut EU-Bestimmungen dann höchstens noch ein Strafnachlass in Höhe von 50 Prozent möglich. Das Bundeskartellamt erklärte, es führe kein Verfahren, aber es lägen „Informationen“zu möglichen Absprachen im technischen Bereich vor. Auch die EU-Kommission habe Einblick. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in Berlin wird die EUKommission die Federführung bei der Aufklärungsarbeit übernehmen.
Daimler soll sich in den vergangenen Jahren bereits zum Teil aus den Abspracherunden zurückgezogen haben. Wie die „Süddeutsche Zeitung“unter Berufung auf zwei Insider berichtete, geschah das, nachdem 2011 ein Lkw-Kartell aufgeflogen war, das später zu einer Rekordstrafe aus Brüssel führte. Es sei entschieden worden, sich von Treffen, die die Konzernleitung als besonders problematisch ansah, künftig fernzuhalten, hieß es.
Dem Geschäftsbericht zufolge entwickelte Daimler 2011 ein neues Kartellrechtstraining. Demnach nahmen 16 500 Führungskräfte und Mitarbeiter an der Internetschulung teil. Das Unternehmen selbst erklärte auf Anfrage, es habe ein „umfassendes Programm“zur Einhaltung des Kartellrechts, das ständig verbessert und angepasst werde.
DSW erwägt Klagen
Ob durch mögliche Absprachen Kunden oder Zulieferer geschädigt wurden, muss erst bewiesen werden – zumal es durchaus Absprachen zu gemeinsamen Standards geben kann, von denen der Kunde profitiert. Denkbar wäre aber eine Reihe wettbewerbswidriger Absprachen, etwa Preisabsprachen zulasten von Zulieferern und Kunden, die entweder die Preise im Materialeinkauf niedrig oder Verkaufspreise bei den Händlern hoch halten sollten. Aus dem Bericht des Magazins „Der Spiegel“geht hervor, dass der technische Wettbewerb bei der Abgasreinigung behindert worden sein soll. Für Zulieferer stellt sich die Frage, ob sie nicht mehr Gewinn hätten erzielen können, um stärker investieren und neue Arbeitsplätze schaffen zu können – oder mehr Geld an Aktionäre zu verteilen.
Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) erwägt bereits Klagen gegen die Autokonzerne wegen möglicher Verstöße gegen Ad-hoc-Pflichten. „Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, werden wir alle juristischen Register ziehen, um die Anteilseigner zu unterstützen“, sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler. Er sehe die Gefahr, dass die Aktionäre die Zeche zahlen müssten: „Die Anteilseigner stehen in Deutschland in solchen Fällen immer am Ende der Nahrungskette. Die zu erwartenden Straf- und Schadenersatzzahlungen in Milliardenhöhe bleiben bei ihnen hängen statt bei den Managern, die die Entscheidungen getroffen haben.“Fest steht: Die deutschen Autowerte im Leitindex Dax gerieten spürbar unter Druck.
IG-Metall-Chef Jörg Hofmann forderte „eine vollumfängliche Aufklärung der Vorgänge. Klar ist, dass das deutsche und europäische Kartellrecht nicht verletzt werden darf und Absprachen zu Lasten von Verbrauchern sowie des Klima- und Umweltschutzes völlig inakzeptabel wären“, sagte Hofmann, der auch Mitglied des VW-Aufsichtsrats ist. Unionsfraktionschef Volker Kauder rief die Autokonzerne auf, „reinen Tisch“zu machen. Sollten sich die Kartellverstöße bewahrheiten, wofür vieles spreche, „muss man schon den klaren Satz sagen: Recht und Gesetz gelten auch für die Autoindustrie“, sagte der CDUPolitiker im ARD-„Morgenmagazin“.
Kretschmann: neuer Tiefschlag
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) fürchtet einen zusätzlichen Imageschaden für die Branche. „Sollte sich der Verdacht erhärten, wäre das ein weiterer Tiefschlag für unseren Automobilstandort“, sagte er der „Heilbronner Stimme“und dem „Mannheimer Morgen“. Die zuständigen Behörden müssten dem Verdacht mit aller Entschiedenheit und Härte nachgehen. „Die Unternehmen stehen in der Pflicht zur Aufklärung“, sagte Kretschmann. „Einige hoch bezahlte Herren“hätten sich offenbar „nicht mit Ruhm bekleckert“, sagte der CDU-Landeschef und Bundesvize Thomas Strobl. Er sieht „bereits heute viel Vertrauen zerstört“.