Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Blick auf ein literarisches Experimentierlabor
Im Gmeiner-Verlag erscheint der Sammelband „Literatur in Oberschwaben seit 1945“
SIGMARINGEN - Im Volkshochschulheim Inzigkofen hat im Oktober 2011 eine Tagung der Gesellschaft Oberschwaben und des Landkreises Sigmaringen stattgefunden, die sich mit der Literaturlandschaft Oberschwabens befasst hat. Jetzt ist dazu im Gmeiner-Verlag ein Band mit zehn Beiträgen erschienen, die diesen Themenkreis unter verschiedenen Aspekten beleuchten. Auch die Region Sigmaringen wird dabei behandelt, nicht zuletzt Saulgau und die Gruppe 47, die 1947 gegründet wurde.
Der Besuch der Schriftsteller der Gruppe 47, die Hans Werner Richter 1963 nach Saulgau eingeladen hatte, stand nicht zuletzt in Zusammenhang mit der exzellenten Küche in der Kleber Post. Walther Jens, der spätere Tübinger Rhetorikprofessor, hatte darauf aufmerksam gemacht. Die Gruppe 47 hatte sich zum Ziel gesetzt, die Literatur nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wieder als kritische Stimme in der Gesellschaft zu etablieren. Namen wie Günter Grass, Paul Celan, Alfred Andersch, Heinrich Böll, Martin Walser Ilse Aichinger, Hans Magnus Enzensberger oder Günther Eich, also die Elite der Nachkriegsliteratur, werden unter anderem im Zusammenhang mit der Gruppe genannt. Auch der Großkritiker Marcel ReichRanicky war dabei. Mit dem Saulgauer Treffen endete auch die sogenannte Hochphase der Gruppe, die für viele Schriftsteller den Beginn einer literarischen Karriere bedeutete.
Blick des Zaungasts
Ewald Gruber aus Saulgau schildert den Besuch aus der Perspektive eines Zaungasts, gibt eine Einführung in die Geschichte der Gruppe und berichtet dann vom Treffen, das übrigens einen späten Widerhall in Günter Grass’ großer Erzählung „Das Treffen in Telgte“fand. „Feuertaufe für Debütanten in Saulgau“schreibt Peter Baumann am 31. Oktober 1963 in der „Schwäbischen Zeitung“über die Tagung. Dieter E. Zimmer widmete dem Treffen einen großen Beitrag in der „Zeit“vom 8. November 1963.
Die Treffen der Gruppe waren nicht nur literarische Zusammenkünfte, sondern auch von politischen Auseinandersetzungen geprägt. Aber vor allem konnten Schriftsteller aus ihren neuen Werken lesen. Auf dem „elektrischen Stuhl“ging es für den Vortragenden dann literarisch um Leben oder Tod, Anerkennung oder Ablehnung durch die Tagungsteilnehmer. 1983 wurde das Treffen zum 75. Geburtstag von Hans Werner Richter wiederholt.
Der Begriff Oberschwaben ist in diesem Sammelband dabei relativ weit zu fassen. Immer wieder taucht auch der Badener Arnold Stadler als Vertreter der jüngeren Generation auf. Auch Ernst Jünger in Wilflingen wird hier hinzugezählt. Der Meßkircher Anton Philipp Knittel berichtet über die „drei Marien“, Maria Beig, Maria Menz und Maria Müller-Gögler. Verschiedene Werke aller drei Autorinnen sind seinerzeit auch im Sigmaringer Thorbecke-Verlag erschienen. Einen zusammenfassenden Bericht über die Tagung der Gesellschaft Oberschwaben in Inzigkofen hat der Sigmaringer Kreisarchivar Edwin Ernst Weber verfasst.
Und als kleines Schmankerl schreibt Peter Blickle in seinem Beitrag „Oberschwaben als große Mutter“: „Sex findet in Texten der neueren oberschwäbischen Literatur in der Regel dort statt, wo die Mutterlandschaft keinen Zugriff mehr hat – gleich jenseits der Grenze, in Konstanz oder in Sigmaringen.“