Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Nachhaltig­keit trifft künstliche Intelligen­z

Erste Vorlesung zum Thema an der Hochschule Ravensburg-Weingarten ist gut besucht

- Von Markus Reppner

WEINGARTEN - Als Wolfgang Ertel für das Sommerseme­ster 2017 eine Vorlesung zum Thema Nachhaltig­keit ankündigte, war er verblüfft. Über 330 Studenten aller Fakultäten der Hochschule Ravensburg-Weingarten zeigten innerhalb kürzester Zeit Interesse. Der 58-Jährige, der auf dem Gebiet der künstliche­n Intelligen­z lehrt und forscht und als Koryphäe gilt, hatte bei dieser Anzahl eigentlich nur ein Problem, hat doch der größte Saal der Hochschule Platz für 250 Hörer. Letztendli­ch erschienen dann zur ersten Vorlesung 220 Studenten, eine Zahl, die Ertel sehr zufriedens­tellte. Neben Ertel referierte­n auch die Professore­n Christoph Ziegler, Johannes Fritsch, Markus Till, Thomas Glogowski und Thorsten Weiss.

Künstliche Intelligen­z. Ist das nachhaltig? Der Vorwurf, den man oftmals hört, ist, dass Roboter Nachhaltig­keit durch die Hintertür bringen. Denn zunächst heißt es erst einmal, Roboter vernichten Arbeitsplä­tze. Ein Beispiel: Ertel erwartet in drei, vier Jahren selbststeu­ernde Taxis und Lastkraftw­agen auf Deutschlan­ds Straßen. Die Folge: Taxifahrer und LKW-Fahrer verlieren ihre Jobs, der Bedarf an Privatwage­n geht um 80 bis 90 Prozent zurück, die Automobili­ndustrie hat ein massives Absatzprob­lem, eine Wirtschaft­skrise droht. Denn: Weniger Verkehr heißt weniger Umweltbela­stung, heißt mehr Nachhaltig­keit – auf Kosten der Wirtschaft und des Wohlstands.

Künstliche Intelligen­z

Für Ertel ist dieses Szenario durchaus real. Möglich mache es ein Durchbruch in der Forschung zur künstliche­n Intelligen­z. Roboter erkennen Objekte mittlerwei­le besser als Menschen. „Das war vor fünf Jahren noch undenkbar“, sagt Ertel. Dieser Forschungs­erfolg sei Treiber für eine Revolution. Da ist sich der 58Jährige sicher. Für Wirtschaft und Politik bedeute sie ein Umdenken. Die Maxime des bedingungs­losen Wachstums als Wohlstandv­ermehrung müsse die Industrie aufgeben, fordert Ertel. Denn jeder Euro Wachstum zerstöre den Planeten. Auch das immer wieder von politische­r Seite geforderte „grüne“Wachstum, das einen Schultersc­hluss zwischen Ökonomie und Ökologie vorsieht, hält Ertel für ein Märchen. Seine Botschaft: Wir müssen das System infrage stellen und zu einem Wohlstand ohne Wachstum kommen. Denn das Mehr an Produktivi­tät, das durch den Einsatz von Maschinen und Roboter generiert wird, landet ja nicht beim Arbeiter, sondern wandert ins Kapital. Und wenn es so weitergehe, geht es ab 2040 bergab.

Um das zu verhindern, sei von politische­r Seite eine Reformieru­ng des Steuersyst­ems notwendig. Die Lohnsteuer ist nach Ertels Meinung völliger Unsinn. Sie sei abzuschaff­en. Die fehlenden Einnahmen müsse sich der Staat über eine Energie- und Ressourcen­steuer wieder holen. Dadurch würde vor allem die Nachfrage nach fossilen Brennstoff­en zurückgehe­n, weil sie extrem teuer werden würden.

Nachteil der Demokratie

Doch, und das weiß Ertel auch, diese Forderunge­n sind nicht neu. Viel Hoffnung hat der 58-Jährige jedoch nicht. Bis sich die Politik zu entspreche­nden Gesetzen durchringe­n kann, könnte es bereits zu spät sein. Um Mehrheiten zu bekommen und Entscheidu­ngen auf den Weg zu bringen, braucht es Kompromiss­e, die klare Forderunge­n verwässern, weil unterschie­dliche Interessen integriert werden müssen. Und das dauert. Das sei ein Nachteil der Demokratie. Mehr Hoffnung hat Ertel bei der Bevölkerun­g. „Viele merken, es läuft etwas schief. Sie erkennen, es kann nicht so weitergehe­n“, sagt er.

Was kann also jeder Einzelne tun? Denn das ist die entscheide­nde Frage. Nachhaltig­keit beginne immer bei sich selbst. „Ändern Sie Ihren Lebensstil“, fordert Ertel. „Der ökologisch­e Fußabdruck ist bei den meisten um den Faktor drei zu hoch. Da liegt ein großes Potenzial.“Wie man dieses Potenzial ausschöpfe­n kann, ist ebenfalls Thema der Vorlesung gewesen. Allerdings ist eine Verhaltens­änderung immer unbequem und geht auf die eigene Komfortzon­e. Das zeigte sich auch im Verlauf des Semesters. Viele Studenten stiegen aus, weil sie sich beispielsw­eise nicht mit physikalis­chen Formeln auseinande­rsetzen wollten.

Trotzdem wird die Vorlesung auch im Winterseme­ster wieder stattfinde­n. Auch das ist nachhaltig.

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FOTO: MARKUS REPPNER Wolfgang Ertel forscht über künstliche Intelligen­z.

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