Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Die „Heilige Europas“
Vor 75 Jahren wurde Edith Stein von den Nazis ermordet – Das Kloster Beuron war der Jüdin lange eine spirituelle Heimat
BEURON - „Wie der Vorhof des Himmels!“Das Benediktinerkloster Beuron im oberen Donautal wirkt in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts für viele junge Katholiken in Deutschland wie ein geistig-geistlicher Magnet. Die Mönche leben mit ihren Gästen die soeben entstandene liturgische Bewegung, beleben den Gregorianischen Choral neu, geben Volksmessbücher heraus. Unter den jungen Leuten sticht eine Gelehrte mit jüdischen Wurzeln hervor, die damals ihren eigenen Weg sucht und Wegweisendes in Beuron findet: Edith Stein, 1891 in Breslau geboren, ist bereits als Philosophin bekannt, als Rednerin gefragt. 15 Besuche in Beuron sind nachgewiesen. Ihr weiterer Weg wird Stein vom Donautal ins Karmeliterinnenkloster in Köln, über das Kloster im niederländischen Echt bis ins Vernichtungslager Auschwitz führen: Dort wurde Edith Stein heute vor 75 Jahren, am 9. August 1942, ermordet. Vor 30 Jahren, am 1. Mai 1987, sprach der damalige Papst, Johannes Paul II., Edith Stein selig, 1998 heilig: Seither wird sie als „Heilige Europas“verehrt.
Philosophin und Rednerin
„In Beuron pflegen wir ein durchaus lebendiges Gedächtnis an Edith Stein“, sagt Erzabt Tutilo Burger, der dem Kloster heute vorsteht. Wissenschaftliche Tagungen beschäftigen sich regelmäßig mit Edith Stein, die nicht nur als Philosophin eine gefragte Rednerin war: Ihre Rolle als Frauenrechtlerin wird heute oft in den Hintergrund gedrängt.
Heute wird mit Beuron und Edith Stein vor allem ein Brief an Papst Pius XI. verbunden, in dem sich Stein im April 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung der Nazis, an den Vatikan wendet und auf die wachsenden Repressalien gegen Juden unter der neuen Regierung in Deutschland aufmerksam macht. Eindringlich bittet sie, „dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe“.
Edith Stein, die als Jüdin aufgewachsen war, arbeitet 1933 als Dozentin am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. Sie nimmt die antisemitischen Ausschreitungen deutlicher wahr als andere Katholiken. Der gewaltsame Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. April 1933 bewegt sie offensichtlich sehr.
Die Kar- und Ostertage verbringt sie wie üblich in Beuron. Dort hat sie in Erzabt Raphael Walzer ihren geistlichen Ratgeber gefunden. 1888 als Spross einer Handwerker-Familie in Ravensburg geboren, lebt Walzer seit 1906 im Kloster. 1918 wird er, noch keine 30 Jahre alt, zum Abt gewählt. Walzer gründet neue Klöster, reist nach Japan: ein kraftvoller Erzabt. Ihm vertraut Stein ihren versiegelten Brief für Papst Pius XI. an. Am Ende des Monats übergibt Walzer den Brief in einer Privataudienz.
„Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit 11 Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt“, schreibt Edith Stein an Pius XI. Sie spricht von Taten, „die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit Hohn sprechen“. Die Saat des Hasses sei aufgegangen. Bei Ausschreitungen handle es sich „keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle“. Ihr selbst seien fünf Selbstmorde in Folge der Anfeindungen bekannt geworden. Die Verantwortung dafür falle nicht nur auf die, die sie soweit brachten, sondern „auch auf die, die dazu schweigen“.
An dieser Stelle bricht es aus der Schreiberin förmlich hinaus: „Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind auch der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen.“
Eine Antwort bekommt Stein nie, nur eine Eingangsbestätigung. Dass der Vatikan über die Entwicklung in Deutschland gut informiert ist, sich aber mit öffentlicher Kritik sehr zurückhält, ist von Historikern hinreichend belegt. Allein über die Gründe für das schon zum festen Ausdruck gewordene „Schweigen der Kirche“gibt es unter Historikern unterschiedliche Einschätzungen. Erst 1937 wird Pius XI. in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“öffentlich protestieren. Für Stein aber wird im April 1933 klar, dass ihr als Jüdin ein öffentliches Wirken versperrt bleibt. Sie macht ihrem „langen Suchen nach dem wahren Glauben ein Ende“und tritt unter dem Namen der von ihr hoch verehrten Teresa von Avila dem Kölner Karmel bei. Mit dem Schritt ins Kloster geht Edith Stein, die sich nun Theresia Benedicta a Cruce nennt, einen weiteren Schritt auf ihrem Weg, dessen Anfänge in Kindheit und Jugend zu finden sind.
Der Weg auf der Suche nach der Wahrheit beginnt für Edith Stein schon im heimatlichen Breslau. Sie wächst in einer Kaufmannsfamilie in der jüdischen Tradition auf und besucht, hochbegabt und brennend ehrgeizig, das eben erst auch für Mädchen geöffnete Gymnasium. Mit 15 Jahren gewöhnt sie sich „das Beten ganz bewusst und aus freiem Entschluss ab“, wie ihre Autobiografie überliefert. Aber die Sinnfrage lässt sie nie mehr los.
Konsequent beginnt sie Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie zu studieren. Sie ist eine der ersten Studentinnen überhaupt. Die Suche nach einem „Sinnzusammenhang“führt Edith Stein zur Philosophie nach Göttingen, genauer zur Phänomenologie, wie sie Edmund Husserl lehrt. Stein, die sich stets als Preußin bezeichnet, meldet sich im Kriegsjahr 1915 zu einem freiwilligen Lazaretteinsatz. Sie lernt dort Tod und menschliches Leid kennen. Zurückgekehrt, beendet sie ihre Doktorarbeit zum Thema „Einfühlung“, die Husserl mit „Summa cum laude“bewertet und strebt eine Habilitation an. Die Professur einer Frau ist in jenen Jahren undenkbar. Husserl verweigert die Habilitation und beschäftigt Edith Stein als Privatassistentin. Der Journalist Burkhard Reinartz schreibt: „Die Zeit von 1917 bis 1921 wird für Edith Stein zu vier Jahren einer lebenswendenden Krise. Viermal versucht sie, sich zu habilitieren. Vergeblich. Sie wird Opfer einer Gesellschaft, die den Frauen ihre Rechte verweigert und die philosophische Begabung der jungen Frau verkümmern lässt.“
Die Lebenskrise durch das berufliche Scheitern wird verstärkt durch zwei unglückliche Lieben zu ihren Philosophenfreunden Roman Ingarden und Hans Lips. Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz erklärt: „Man hat lange Zeit gar nicht gewusst, dass Edith Stein in ihrer Jugend eine Beziehung zu zwei Männern gehabt hat, nacheinander. In beiden Fällen war es so, dass Edith Stein eigentlich gerne eine Ehe angestrebt hätte. In beiden ist sie sehr stark brüskiert worden. Man hat ihre Kameradschaft, ihre Klugheit gesucht, aber dann sie als Frau zurückgewiesen. Sie war natürlich leer, enttäuscht, ausgebrannt. ,Totenstille’ hat sie das genannt. Es ist eher so, dass sie dann über die Entdeckung Gottes eine Form von ,Heilung’ erfahren hat, die ihr sehr geholfen hat.“
Kurze Zeit arbeitet Stein in der Deutschen Demokratischen Partei mit. Und sie engagiert sich für das Frauenstimmrecht wie auch für die Gleichstellung der Frau: „Es gibt keinen Beruf, der nicht von einer Frau ausgeübt werden könnte. Keine Frau ist ja nur Frau, jede hat ihre individuelle Eigenart und Anlage so gut wie der Mann und in dieser Anlage die Befähigung zu dieser oder jener Berufstätigkeit künstlerischer, wissenschaftlicher oder technischer Art.“
Da ihr eine wissenschaftliche Karriere verwehrt bleibt, arbeitet Stein von 1923 bis 1931 als Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Lyzeum St. Magdalena bei den Dominikanerinnen in Speyer. Ihre Sinnsuche geht parallel weiter: 1922 lässt sie sich taufen und sucht die Nähe zur Kirche. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz weiß: „Edith Stein gehörte der Generation an nach dem Ersten Weltkrieg, für die die Kirche der Leuchtturm und das Leuchtfeuer in einer zerbrochenen Welt war. Es gibt in den 1920er-Jahren Hunderte von Konversionen, auch gerade jüdische. Die große Kultur ist in den Schlachtfeldern verblutet. Die deutsche Kultur war am Ende. Es schien als einzige Größe nur die katholische Kirche zu bleiben.“
Im Jahr 1927 verbringt Stein die Ostertage im Benediktinerkloster Beuron und trifft dort auf Erzabt Raphael Walzer. Er sagt später von ihr: „Selten habe ich einen Menschen getroffen, der so viele und hohe Eigenschaften vereint hatte. Sie war schlicht mit einfachen Menschen, gelehrt mit Gelehrten, ohne alle Überhebung, mit Suchenden eine Suchende, beinahe möchte ich hinzufügen, mit den Sündern eine Sünderin.“Stein spricht mit ihm über ihren gewünschten Eintritt in ein Karmeliterinnenkloster. Walzer rät ihr von einem sofortigen Eintritt ab. Ihm geht das alles zu schnell. Und er will, dass Stein weiter in der Öffentlichkeit wirken kann: Walzer verweist sie immer wieder auf die konkrete Arbeit als Lehrerin. Und so nimmt sie 1932 den Ruf als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster an.
Am 14. Oktober 1933 tritt Stein in den Kölner Karmel ein. Am 15. April 1934, dem Sonntag des Guten Hirten, beginnt ihr Noviziat. Die Verbindung zu Beuron hält: Erzabt Walzer feiert den Gottesdienst, traut der ganzen Sache aber noch nicht ganz. Deshalb fragt er sie nach der Einkleidung, wie sie sich fühlen würde. „Ganz daheim“, antwortet sie ihm.
Im Karmel verfasst Stein ihr Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“. Darin fragt sie – wie HusserlSchüler Martin Heidegger – nach dem Sinn des Seins. Aber über die Existenzphilosophie hinaus suchte sie nach einem „in sich begründeten Sein, nach Einem, der das ,Geworfene’ wirft“.
Im Kloster verändert sich Sr. Theresia Benedicta. Sie wird gelassener, kann scherzen und lachen, bis ihr die Tränen herunterlaufen. Dies ist jedoch nur eine Seite im Leben der Edith Stein. Ihre Novizenmeisterin berichtet: „Tatsächlich war der Eintritt in den Karmel für Edith Stein ein Herabsteigen von der Höhe der Ruhmeslaufbahn in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit.“
In Deutschland wird die Situation für Juden immer unerträglicher. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, der „Reichspogromnacht“, entlädt sich der sorgfältig inszenierte Judenhass: „Das ist der Schatten des Kreuzes, der auf mein Volk fällt ... Wehe, wenn die Rache Gottes für das, was heute an den Juden geschieht, über diese Stadt und über dieses Land kommt.“Um den Kölner Karmel zu schützen, siedelt Edith Stein mit ihrer Schwester Rosa Ende 1938 in den Karmel im niederländischen Echt über.
Doch nach dem deutschen Überfall 1940 spitzt sich auch im besetzten Holland die Lage zu: Der Protest Pius XI. gegen die Judenverfolgung in seiner Enzyklika wird am 26. Juli 1942 von den Kanzeln aller katholischen und vieler protestantischen Kirchen verlesen. In einem Racheakt werden alle katholischen Juden verschleppt und ermordet, darunter auch Edith Stein. Am 9. August 1942 stirbt sie in den Gaskammern von Auschwitz.
„Wehe, wenn die Rache Gottes für das, was heute an den Juden geschieht, über diese Stadt und über dieses Land kommt.“ Edith Stein in der Reichskristallnacht aus dem Kölner Karmel