Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Bau der Orgel dauerte länger als die der gesamten Basilika
Warum die Gabler-Orgel in Weingarten ein legendäres Instrument ist
WEINGARTEN - Sie ist 14 Meter hoch und acht Meter breit: Die Gabler-Orgel auf der Westempore der Basilika ist ein einzigartiges Instrument, das nicht nur klanglich, sondern auch optisch imposant daherkommt. Der Baumeister Joseph Gabler schuf die komplex konstruierte Orgel 13 Jahre lang – und arbeitete somit länger am wertvollen Instrument als die 140 Arbeiter, die ab 1715 die komplette Barockbasilika errichtet hatten.
Doch was macht die Gabler-Orgel so einzigartig? Über diese Frage braucht Wolfgang Rehn, der 40 Jahre lang im Orgelbau tätig war und in den 1980er-Jahren mit der Renovierung des Weingartener Instruments betraut war, nicht lange nachzudenken. „Das äußere Erscheinungsbild des Instruments, diese fantastische Architektur, war in der damaligen Zeit einzigartig“, schwärmt der Orgelbauer. „Außerdem sind es natürlich die riesigen Pfeifen: Mit ihren 32 Fuß sind sie das Extremste, das es im Orgelbau gibt. Sie sind beinahe 10 Meter lang.“Außer der Basilika Weingarten habe die Luzerner Hofkirche ein vergleichbares Instrument. Sonst könnten mit Gablers Meisterwerk „nur einzelne Pfeifen in Europa mithalten“, so Rehn.
Technische Finessen seien der frei stehende Spieltisch, der zu den ersten dieser Art in Süddeutschland zählt, und die weit verzweigte Bauweise der Orgel. „Durch diese großartige Verteilung gestaltet sich auch die Mechanik sehr komplex“, weiß Rehn. Er erinnert sich besonders gern an „die wunderschönen Elfenbeinbestandteile und die qualitativ fantastische Bauweise der Orgel“. Und natürlich ist auch die Klangfülle des Instruments beeindruckend: Die Gabler-Orgel fasziniert durch viele musikalische Spielereien, etwa den Kuckucksruf, den Gesang einer Nachtigall und durch Orgelpfeifen, die Glockenspiele, Flöten, Trompeten, Pauken und sogar Donnergrollen imitieren.
Etliche Legenden
Kein Wunder also, dass sich um den Baumeister Joseph Gabler (1700 bis 1771) und sein Instrument schon seit Jahrhunderten etliche Legenden ranken. Etwa die einer geheimen Schiebevorrichtung, mit der die Orgel quasi auf Knopfdruck lahmgelegt werden könne (die SZ berichtete). Oder der Mythos, dass das Orgelwerk aus 66 Registern mit 6666 Pfeifen bestünde, von denen die größte sechs Zentner und die kleinste sechs Lot schwer sei.
„Diese Geschichte, die im Übrigen nicht stimmt, ist eine Sache, die in 100 Jahren noch kursieren wird“, meint Restaurator Wolfgang Rehn. Festgelegt hatte Gabler diese Zahlen im ersten Vertrag, den er am 6. Juli 1737 mit dem Kloster Weingarten geschlossen hatte. Doch schon darin entdeckten Experten einen Rechenfehler – die Zahl von 6666 Orgelpfeifen soll Gabler zwar angestrebt, jedoch nie erreicht haben. Ursprünglich seien es 6631 Pfeifen gewesen, wie in der Dokumentation „Die große Orgel der Basilika zu Weingarten“von Friedrich Jakob nachzulesen ist. Heute besteht die Orgel übrigens aus 6890 Pfeifen – und Gabler ist als „Zahlenakrobat“enttarnt, der mit „harmloser Freude“gerne auf- und abrundete und sich immer wieder mal verrechnete.
Die wohl tiefsinnigste Sage rund um die Gabler-Orgel ist die der „vox humana“: Sie wurde nicht nur in diesem Sommer vom Welfentheater auf dem Martinsberg nacherzählt, sondern war schon vor mehr als 100 Jahren Ausgangspunkt eines Mysterienspiels. So ist bereits 1930 Karl Weinbergers Mysterienspiel „Das Geheimnis der Münsterorgel“auf dem damaligen Hindenburgplatz unterhalb der Basilika aufgeführt worden. Sieben Jahre später inszenierte der von der Württembergischen Landesbühne stammende Regisseur Gerhard Uhde das Heimatspiel erneut – 77 Stufen höher, nämlich direkt „vor der eindrucksvollen Kulisse des Münsters“auf dem Vorplatz der Basilika, wie das Ravensburger Tagblatt 1937 schreibt.
Uhde gestaltete das Mysterienspiel „mit gutem Theatersinn und künstlerischem Geschmack“und lockerte den Dramenstoff auf. So konnte er „dem Stück den bisher betonten sagenhaften Charakter nehmen und das Zeitalter des Barock als eine Angelegenheit deutscher Geistes- und Kulturgeschichte zeigen“, urteilte das Ravensburger Tagblatt am 24. April 1937 nach einem Interview mit dem Spielleiter, der seine Inszenierung mit zeitgemäßen Kostümen, oberschwäbischen Trachten und sogar Pferden ausstattete.
Das Heimatspiel und die zugrundeliegende Legende über die „vox humana“schildern das Ringen der Künstlerseele um Vollendung: Der Sage nach soll Gabler wie viele Orgelbauer seiner Zeit versucht haben, die menschliche Stimme mittels eines Orgelregisters möglichst unverkennbar nachzuahmen. Weil ihm dies trotz etlicher Experimente mit unterschiedlichen Materialien nicht gelingen wollte, soll er des Nachts am Laurastein einen Pakt mit dem Teufel eingegangen sein: Mit Blut verschrieb er dem Teufel seine Seele – und bekam dafür ein zauberhaftes Stück Metall, das bestens für den Pfeifenguss geeignet war. Herrlich erklang diese aus dem teuflischen Material gegossene „vox humana“, die Menschenstimme. Und sie sang so verführerisch von der Lust der Welt, dass die Mönche sich alsbald in Weltfreuden stürzten.