Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Den Toten einen Namen geben
Junge Leute aus 13 Nationen engagieren sich in einem Workcamp in der Kriegsgräberfürsorge – Nachdenken, arbeiten und lernen
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ULM - Mit feinem Pinsel, Millimeter für Millimeter, zieht Ilona Borsuk den Namen des gefallenen Soldaten auf dem Grabstein nach: Der Schriftzug „W. Sonleiter“ist jetzt wieder gut zu erkennen. 1917 ist Sonleiter gestorben, er wurde 43 Jahre alt, er stammte aus Berlichingen und gehörte einem Lazarettzug an. Mehr ist weder über Sonleiter noch über die fast 2600 Gefallenen beider Weltkriege bekannt, die auf dem Ulmer Hauptfriedhof beigesetzt sind. „Aber jetzt ist sein Name wieder erkennbar, er ist nicht vergessen“, begründet Ilona Borsuk ihre Arbeit in der Hitze dieses Augusttages. Die 20-jährige Studentin stammt aus Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands. Mit ihr zusammen ist Caroline Rak nach Ulm gekommen, auch sie restauriert einen der verwitterten Grabsteine: den des Soldaten Haenselmann aus Dresden. Zusammen mit Borsuk sind 27 junge Menschen aus Weißrussland, Bulgarien, Italien, Ungarn, Rumänien, Frankreich, Polen, der Ukraine, Russland, Mazedonien und der Türkei bei dem Projekt des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge dabei, außerdem zwei Deutsche und ein junger Mann aus Syrien: Sie pflegen für zwei Wochen Kriegsgräber als Zeichen für den Frieden. Über 30 Sommercamps werden vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge organisiert. In Russland, Weißrussland, Rumänien, Frankreich oder sogar Kamerun finden sie statt – aber die meisten organisiert der Volksbund hierzulande.
Dass die Arbeit des Volksbunds nicht auf die Vergangenheit ausgerichtet sei, sondern auf „ein Lernen für die Zukunft“, betont Wolfgang Schneiderhan, langjähriger Generalinspekteur der Bundeswehr und seit ein paar Monaten Präsident des Volksbunds: „Der Volksbund soll zu einem aktiven Akteur der Erinnerungslandschaft werden“, sagt er. Die 15 000 Kriegsgräberstätten in Deutschland sollten Ausgangspunkt für die friedenspädagogische Arbeit regionaler Schulen sein.
Weiter sieht Schneiderhan gerade Camps wie jenes in Ulm mit Teilnehmern aus 13 Nationen als „best practice“, um den europäischen Gedanken zu stärken. Der ehemalige General zitiert Jean-Claude Juncker, den Präsidenten der Europäischen Kommission. Der Luxemburger weist immer wieder auf frühere Kriege auf dem Kontinent und die friedensstiftende Funktion der Europäischen Union seit 60 Jahren hin und mahnt: „Wer an Europa zweifelt, und wer an Europa verzweifelt, der soll Soldatenfriedhöfe besuchen, dann zweifelt er nicht mehr.“
Die Nachfrage nach solchen Camps sei ungebrochen – trotz der Vielfalt an Freizeitangeboten, erklärt Diane Tempel-Bornett von der Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes in Kassel. „Wir haben jedes Jahr etwa 1800 Teilnehmer und das war in den vergangenen 20 Jahren relativ konstant.“Und das trotz sinkender Geburtenzahlen. Der Volksbund lässt sich diese Jugendarbeit laut TempelBornett jährlich mehr als drei Millionen Euro kosten. „Ziel ist es, die jungen Menschen anschaulich mit den Folgen von Krieg und Gewalt zu konfrontieren und sie zu motivieren, sich für ein friedliches Miteinander einzusetzen.“
Denkprozesse anstoßen
„Lernen für die Zukunft“: In Ulm setzen die Jugendlichen diesen hehren Satz nicht nur um, wenn sie Grabinschriften nachzeichnen, Steinkreuze reinigen oder Grünanlagen pflegen. Sie fegen Blätter und Tannennadeln von den Steinplatten auf dem Areal, einige säubern mit einer Bürste Schriftzüge aus Metall, sodass die Namen von Bombenopfern wieder erkennbar sind. „Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen“, sagt Uwe Reinisch, der seit 2004 als Betreuer Sommercamps plant, durchführt und sie leitet. Die Arbeit an den Gräbern sei nicht allein dafür da, dass die Ruhestätten wieder gereinigt und verschönert werden. Vielmehr stößt die Beschäftigung Denkprozesse bei den jungen Menschen an, ist der Betreuer überzeugt. „Oftmals stellen sie fest: Oh, da war jemand so alt wie ich und der musste schon sterben. Das bringt die Jugendlichen dann zum Nachdenken“, sagt Reinisch. Die jungen Menschen bilden sich nach Reinischs Erfahrung selbst ihre Meinung zu den angesprochenen Themen. „Es steht kein politisches Engagement dahinter“, sagt er. „Ich denke, den Jugendlichen wird durch die Arbeit an den Gräbern bewusst: Das waren alles Menschen, die hier gestorben sind – egal, auf welcher Seite sie nun standen.“Besonders nahe geht es vielen Teilnehmern, wenn sie sich mit den Familienund Kindergräbern auseinandersetzen, erzählt Betreuer Reinisch. Der schwerste Luftangriff auf Ulm erfolgte am 17. Dezember 1944, bei diesem wurden Hunderte Menschen getötet oder verletzt. Bis zum Ende des Krieges wurden 1710 Luftkriegsopfer erfasst. „Dort sind auch Mütter und Väter mit ihren Kindern begraben“, sagt ein Teilnehmer: „Sie starben bei der Bombardierung von Ulm. Die Kinder hatten keine Chance aufzuwachsen und eine fröhliche Kindheit zu erleben.“
„Lernen für die Zukunft“heißt beim Volksbund auch, politische und historische Bildung als wichtigen Teil des Sommercamps zu integrieren. So stehen auf dem Programm Besuche der KZ-Gedenkstätte am Oberen Kuhberg in Ulm oder die Beschäftigung mit den Zielen der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Der Blick der Teilnehmer fällt somit auf die aus Ulm stammenden Geschwister Hans und Sophie Scholl, die 1943 ermordet wurden. „Hans und Sophie Scholl waren nicht viel älter als wir, als sie für ihre Überzeugung starben. Sie sind Vorbilder für uns“, betont eine Teilnehmerin. „So erfahren die jungen Menschen nicht nur von dem leidvollen Schicksal von Menschen im Krieg, sondern lernen auch zu verstehen, wie totalitäre Systeme entstehen und funktionieren“, erklärt Heike Baumgärtner, Jugendund Bildungsreferentin beim Volksbund. Das Thema „Menschenrechte“als diesjähriges Jahresthema der Bildungsarbeit des Volksbundes wird dabei aufgegriffen und schafft Bezüge zu der aktuellen Situation in Europa.
Gerade für die Teilnehmer beispielsweise aus Weißrussland, Ungarn, Polen, der Ukraine oder Russland wird es hier spannend, erstarken doch in ihren Heimatländern antidemokratische und populistische Kräfte. Hierzu weiß Bildungsreferentin Heike Baumgärtner: „Sehr wichtig ist jungen Menschen im Kontext des Themas Menschenrechte der freie Zugang zu Informationen über Medien. Sie möchten Dinge hinterfragen dürfen und von verschiedenen Seiten beleuchten, bevor sie sich ein Bild machen. Sie sind sich der Gefahren von Manipulation oder Restriktion von Informationen durchaus bewusst. Es ist ihnen ein großes Bedürfnis, sich frei austauschen zu können, sowohl in ihrer Heimat als auch im internationalen Umfeld.“Daher sind Gespräche oder Fotos von jungen Türken, die in Ulm dabei sind, nicht gestattet. Zu groß ist die Furcht, dass sie nach ihrer Rückkehr ins Heimatland aufgrund ihres Engagements in Deutschland Repressalien ausgesetzt werden könnten.
Internationale Freundschaften
Nebenbei entwickeln sich unter den Jugendlichen Freundschaften über die Landesgrenzen und die Tage im Camp hinweg. „Wir haben eine kleine Gruppe aus Tschechen, Ungarn, und Polen“, berichtet Isabella Cirlanaru. Die 21-Jährige aus Brasov, die 2013 erstmals an einem Camp teilnahm, pflegt diese Freundschaften via Skype und WhatsApp. Auch der Student Florin Badau aus Bukarest hat schon einige neue Freunde über das Kriegsgräber-Projekt gefunden. Seit sechs Jahren nimmt er regelmäßig teil – in manchen Jahren besuchte er sogar mehrere Sommercamps; auch in diesem Jahr. Bevor er nach Ulm kam, war er bereits zwei Wochen im hessischen Zwingenberg. Er schätzt an den Camps, dass dort viele Leute unterschiedlicher Nationalitäten aufeinandertreffen. „Am ersten Tag kommt man an und kennt gar niemanden“, sagt der 22-Jährige. „Und am letzten Tag verabschiedet man sich unter Tränen.“Für ihn hat das Camp einen anderen positiven Aspekt: „Ich habe hier sehr viel gelernt und nebenbei meine Fremdsprachenkenntnisse aufgebessert“, sagt der Rumäne auf Deutsch.
Ilona Borsuk und Caroline Rak, die beiden Studentinnen aus Weißrussland, haben den Grabsteinen wieder gut erkennbare Namen verliehen, die Grabstätten der Soldaten erstrahlen in neuem Glanz. „Was wir hier tun ist interessant, historisch und wichtig: für unsere Zukunft, für die Zukunft junger Leute in Europa.“