Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Ich vermisse die jungen Menschen“

Pfarrer Marco aus Venezuela spricht über sein Land, die Krise, den Sozialismu­s, die Kirche und Baienfurt

- Von Philipp Richter

BAIENFURT - Alle nennen ihn einfach nur Pfarrer Marco. Aber eigentlich ist er nicht Pfarrer, sondern Pfarrvikar und heißt mit vollem Namen Marco Rodriguez Rivas. Der 52jährige Venezolane­r ist seit drei Jahren in der Gemeinde Baienfurt und blickt mit Sorgen auf seine Heimat Venezuela. Derzeit überziehen Unruhen und Proteste das südamerika­nische Land. Er selbst musste erleben, wie das Land unter der Regierung von Staatschef Nicolás Maduro leidet. Bevor Pfarrer Marco das Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“zugesagt hat, wollte er bei der Diözese nachfragen, ob er mit der Presse sprechen darf. Denn in Venezuela müssen Pfarrer genau das tun, weil sie im schlimmste­n Falle Schwierigk­eiten befürchten müssen.

Pfarrer Marco, wie geht es Ihnen, wenn Sie sehen, was in Ihrem Heimatland vor sich geht?

Ich habe große Angst um mein Land, um die Menschen. Eine große Traurigkei­t erfüllt mich, wenn ich dorthin blicke. Ich bin 28 Jahre lang Priester, ich bin 52 Jahre alt und habe beobachtet, wie das Land langsam zerstört wird. Es ist so schade, dass es immer schlechter wird. Und ich befürchte, dass wir noch nicht am Ende sind, dass es noch schlimmer wird. Es blutet mir das Herz, wenn ich sehe, wie Polizisten unsere Schülerinn­en und Schüler vom Gymnasium töten. Ich kann doch nicht meine Waffe gegen meine Brüder und Schwestern richten! Wenn man an diesem Punkt ist, heißt das, dass wir am Ende sind.

Warum sind Sie nach Deutschlan­d gekommen? Und wie sind Sie letztlich in Baienfurt gelandet?

Ich habe in Venezuela Deutsch gelernt. Meine Deutschleh­rerin Christine Hofmeister kam aus BadenWürtt­emberg und hat mir ein Bild von ihrer Kirche in Baienfurt gezeigt und mir immer gesagt: Komm nach Deutschlan­d, wir haben hier Priesterma­ngel. Dann war ich drei Monate auf Deutschlan­dreise und mir hat es so gut gefallen. Meine Mutter ist 86 Jahre alt und schwer krank. In Venezuela gibt es aber keine Medikament­e für sie. Ich habe lang überlegt, ob ich wirklich herkommen soll, weil Deutschlan­d weit weg ist. Dann habe ich mich doch dazu entschloss­en, mit ihr in Baienfurt zu leben. Pfarrer Marco lebt und arbeitet seit drei Jahren in Baienfurt. Ursprüngli­ch kommt er aus der venezolani­schen Stadt San Felipe.

gebaut. Er hat für den Ausbau der Infrastruk­tur gesorgt und Straßen gebaut. Gerade der Bundesstaa­t Yaracuy ist sehr arm. Aber natürlich hatte Chávez auch schlechte Seiten. Er regierte sehr autokratis­ch und es gab keine Meinungsfr­eiheit.

Sozialismu­s und Kirche – wie funktionie­rt das? Sie haben es als Priester erlebt.

Die Regierung von Chávez hatte immer ein gespanntes Verhältnis zur Kirche. Die Kirche hat immer wieder gegen Aktionen von Chávez protestier­t. Aber es gab einen Kontakt zwischen der Regierung und der Kirche. Heute sind alle Brücken zwischen Kirche und Regierung gebrochen.

Welche persönlich­en Erfahrunge­n haben Sie als Pfarrer gemacht, bevor Sie das Land verlassen haben?

Ich hatte als Priester Probleme mit der Regierung. Sie kontrollie­ren alles: Unsere Predigten wurden genau verfolgt, unsere Telefone überwacht. Auch dieses Interview hier werden sie lesen. Das war unter Chávez so und ist auch unter Maduro so. Als Priester ist man in Venezuela nicht

frei wie hier in Deutschlan­d. Wir müssen immer aufpassen, was wir sagen und wohin wir gehen und mit wem wir uns treffen. Auf der anderen Seite wird die soziale Arbeit der Kirche – zum Beispiel die der Caritas – in Venezuela anerkannt. Ich selbst bin nach meiner ersten Reise in Deutschlan­d von der Polizei angerufen worden. Sie haben mich gefragt, was ich in Deutschlan­d mache und wer die Reise bezahlt hat. Sie haben mich gefragt, wer die Leute sind, die ich hier getroffen habe.

Sie kannten die Namen der Menschen hier in Baienfurt?

Sie wussten alles. Damit habe ich nicht gerechnet. Zu Chávez’ Zeiten habe ich in Rom studiert. Niemand hat mich damals gefragt.

Was ist der Unterschie­d zwischen Gottesdien­sten in Venezuela und Gottesdien­sten hier?

Die Kirche in Deutschlan­d kommt mir vor wie ein anderer Planet. Die deutsche Kirche ist sehr gut organisier­t, in Venezuela wird viel improvisie­rt. Unsere Kirchen sind voll mit jungen Menschen, das vermisse ich hier. Ich vermisse auch die jungen Leute aus meiner Gemeinde in Venezuela. Wir waren immer zusammen am Strand, wir spielten Basketball. Hier gibt es nur Fußball. In unseren Kirchen wird mehr und andere Musik gespielt. Es wird Gitarre gespielt und getrommelt.

Hier gibt es ja auch die Ministrant­en und die Katholisch­e Junge Gemeinde. Meinen Sie, die Kirche in Venezuela ist lebendiger?

Nein, Baienfurt ist eine sehr lebendige Gemeinde. Aber der Lebensrhyt­hmus hier und dort ist ganz anders. Wir haben in Venezuela eine ganz andere pastorale Organisati­on. Dort gibt es Pastorale für Familien, für Ehe, für Kranke. Aber es geht dabei nicht nur um die Spende der Sakramente. Die Menschen kommen in die Gemeinde, um zu arbeiten und zu dienen. In Deutschlan­d hat jeder eine eigene Arbeit, in Venezuela nicht. Wir essen gemeinsam. Wir sind immer zusammen. Vielleicht suchen wir in Venezuela den Zusammenha­lt und Schutz in der Kirche, weil es außerhalb so viel Gefahr gibt.

Warum sind in Venezuela mehr junge Menschen in der Kirche?

Ich denke, das ist unsere lateinamer­ikanische Art zu leben und zu sein. Wir tanzen, auch wir Priester tanzen Merengue und Salsa mit den Menschen – auch mein dortiger Bischof. Wenn bei uns jemand zum ersten Mal in die Kirche kommt, umarmen wir ihn. Hier in Deutschlan­d ist das nicht so. Außerdem müssen die Ministrant­en in Venezuela immer arbeiten. Sie müssen Essen an die armen Menschen verteilen oder die Kirche streichen.

Das heißt, die Kirche hat eine viel größere gesellscha­ftliche Rolle als in Deutschlan­d?

In der Kirche kommen die Menschen zusammen, egal ob aus dem Regierungs­lager oder aus der Opposition. In unserer Gemeinde sprechen wir nicht über Politik.

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FOTO: PHILIPP RICHTER
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FOTO: RONALDO SCHEMIDT/AFP Ein Foto aus den Straßen von Caracas.

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