Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Wir brauchen mehr Qualifizierung und Frauenförderung“
BERLIN - Um den Fachkräftemangel zu beheben, benötigt Deutschland ein Einwanderungsgesetz. Das sagte Andrea Nahles (SPD, Foto: dpa), Bundesministerin für Arbeit und Soziales, im Interview mit Rasmus Buchsteiner.
Der Fachkräftemangel nimmt zu. Wie dramatisch ist die Entwicklung?
Wir müssen unbedingt eine große Schippe drauflegen. Bereits jetzt wird händeringend nach Fachkräften gesucht. Wir brauchen mehr Qualifizierung, mehr Frauenförderung und Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz. Es geht darum, auch Fachkräfte unterhalb des akademischen Levels gezielt anwerben zu können.
Warum wird beim Thema Fachkräfte immer gleich an mehr Zuwanderung gedacht?
Natürlich müssen wir das Potenzial, das wir selbst haben, sehr viel besser ausnutzen. Viele Frauen in Deutschland arbeiten nur in Teilzeit. 750 000 würden gerne länger arbeiten, aber sie stecken in der Teilzeitfalle. Ich habe einen Gesetzentwurf für ein Recht auf Rückkehr von Teil- in Vollzeit vorgelegt. Da hat die Union blockiert und trägt jetzt die Verantwortung dafür, dass diese Möglichkeit ungenutzt bleibt, weiteres Fachkräftepotenzial auszuschöpfen.
Zuwanderung und mehr Frauen, die länger arbeiten – was hilft sonst noch gegen den Fachkräftemangel?
Für den digitalen Wandel brauchen wir eine langfristige Weiterbildungsund Qualifizierungsstrategie. Deshalb haben wir das „Chancenkonto“für Erwerbstätige entwickelt. Qualifizierung soll nicht erst bei Arbeitslosigkeit einsetzen, sondern dann, wenn es ins Erwerbs- und Privatleben der Menschen passt, unabhängig vom eigenen Geldbeutel. Alle sollen ein Guthaben bekommen, das sie investieren können – in sich selbst. Für eine Unternehmensgründung oder Qualifizierung.
Wie weit ist Deutschland von der Vollbeschäftigung entfernt?
Wir haben große Fortschritte gemacht. Ich bin sehr froh, beinahe jeden Monat gute Zahlen verkünden zu können. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Es gibt eine verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit, bei der wir mit den vorhandenen Mitteln nicht weiterkommen. Wer Vollbeschäftigung verspricht, muss auch etwas dafür tun - und anders als Frau Merkel habe ich dazu auch ein Konzept.
Sind die Jobchancen von Flüchtlingen nicht von Anfang an überschätzt worden?
Es war von Anfang an klar, dass die Sache kein Sprint wird, sondern ein Langstreckenlauf. Im Mai 2017 hatten wir 149 000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Flüchtlinge und zusätzlich 54 000 in Minijobs. Das ist ein großer Fortschritt. Viele kommen jetzt aus den Integrationskursen, bereits gut Qualifizierte haben inzwischen Weiterbildungen erhalten. Andererseits haben wir 585 000 Flüchtlinge, die auf Hartz IV angewiesen sind und rasch in Jobs vermittelt werden sollten.