Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Lohnrätsel
Trotz hoher wachsender Beschäftigung steigen die Löhne kaum
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FRANKFURT - Es wirkt paradox: Die Bundesregierung sieht großen Handlungsbedarf, um die Fachkräftelücke zu füllen. Das verkündete sie Mitte dieser Woche in ihrem „Fortschrittsbericht“. Laut Beratungsunternehmen Prognos fehlen der deutschen Wirtschaft bis 2030 etwa drei Millionen Fachkräfte. Doch trotz dieser Knappheit gibt es keinen Lohndruck in Deutschland.
Die Tariflöhne sind im ersten Halbjahr um 2,5 Prozent gestiegen – ähnlich dem Vorjahr, als es 2,4 Prozent waren. Nach Abzug der Inflationsrate sah es dieses Jahr allerdings schlechter aus als 2016: Real blieb ein Zuwachs von 0,9 Prozent übrig – (2016: 1,9 Prozent). Erklären lassen sich die im Vergleich Wirtschaftsaufschwung moderaten Werte mit statistischen Eigenarten: Was im Durchschnitt stimmt, muss nicht überall stimmen.
Werner Eichhorst, Direktor für Arbeitsmarktpolitik Europa am Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit, hat eine „starke Differenzierung der Lohnzuwächse nach einzelnen Berufsgruppen“beobachtet, „mit trotz allem substantiellen Gewinnen im oberen Segment“. Doch da die unteren Lohnebenen nicht mitzogen, fiel ein Lohndruck im Schnitt eben aus. Eichhorst verweist auf eine Studie der Kollegen des DIW in Berlin. Darin heißt es: „In der Zeit von 1995 bis 2010 galt: Je höher der Verdienst, desto besser war die Lohnentwicklung.“Die unteren Lohngruppen hätten in dieser Zeit aber „erhebliche Reallohnverluste“hinnehmen müssen. Das habe sich nach 2010 geändert: Dann seien die unteren und die oberen Lohngruppen besser bezahlt worden, aber in den mittleren habe sich wenig getan. Wettgemacht seien die früheren Verluste beim Reallohn in den unteren Lohngruppen jedoch noch nicht.
Malte Lübker, Tarif- und Einkommensanalyst am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, argumentiert in eine ähnliche Richtung. Er vermisst trotz steigender Beschäftigtenzahlen wirkliche Knappheit am Arbeitsmarkt. „Wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass viele der Beschäftigten in Minijobs, in Teilzeitbeschäftigung sind.“Und auf dieser Ebene sei der Arbeitskräftemangel in Deutschland und in Europa eben nicht so ausgeprägt, wie sich beim ersten Blick auf die Beschäftigtenzahlen darstelle.
Zu wenig investiert
Weitere Argumente, um den ausbleibenden Lohndruck zu erklären: Da lange zu wenig investiert wurde, ist die Arbeitsproduktivität kaum angestiegen. Weil also der Verteilungsspielraum nur langsam stieg, stiegen auch die Löhne langsam. Außerdem wurden viele neue Stellen im Gesundheitsund Dienstleistungsbereich geschaffen, in dem die Produktivität und damit der Verteilungsspielraum kaum wächst. Zudem war die Inflation niedrig, zeitweise sogar negativ. Da reichte ein schmaler Lohnaufschlag, um mehr reale Kaufkraft zu schaffen. Außerdem sind viele Arbeitskräfte aus ärmeren EUStaaten zugewandert, die mit den deutschen Tariflöhnen höchst zufrieden waren.
Die sinkende Gewerkschaftsmacht hat ebenfalls Auswirkungen: 1985 waren in der OECD noch 30 Prozent der Beschäftigten organisiert, heute sind es 17 Prozent. Die Drohung von Arbeitgebern, notfalls Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, drückte ebenfalls die Löhne. Als weiteren Grund führen Ökonomen die Tendenz an, dass Gewinne zunehmend an Unternehmer und Aktionäre und weniger an die Mitarbeiter verteilt werden.
Die IG Metall will jetzt die Chance nutzen und in der anstehenden Lohnrunde für die knapp vier Millionen Beschäftigten eine Lohnwende einleiten. Für die Versicherungsbranche hat Verdi diese Woche ein Plus von zwei Prozent im ersten und im zweiten Jahr weitere 1,7 Prozent erreicht. Da werden die Metaller wohl höhere Forderungen stellen. Die Tarifkommissionen seien ja dafür bekannt, „sehr anspruchsvoll zu reagieren“, sagt der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann. Die Konjunktur laufe hervorragend. Die Unternehmen hätten 2016 „mit glänzenden Bilanzen“abgeschlossen. Und 2017 sehe bis jetzt genauso gut aus. „Also kein Grund für irgendwelche Zurückhaltung im Entgelt“, so Hoffmann.
Doch bevor die IG Metall auch nur eine Zahl in den Raum gestellt hat, stöhnen die Arbeitgeber bereits. Denn die Metaller wollen die 28Stunden-Woche mit Lohnausgleich für jene durchsetzen, die ein Kind oder einen Angehörigen zu betreuen haben. „Wenn wir von 35 auf 28 Wochenstunden reduzieren, würden wir den Fachkräftemangel in unverantwortlicher Weise verschärfen“, klagt Rainer Dulger, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Eine „massive Tarifflucht“wäre die Folge: „Und Produktionsverlagerungen ins Ausland, weil die Arbeit hier gar nicht mehr erledigt werden könnte.“Gut möglich, dass solche Hinweise die Löhne weiter im Zaum halten.