Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Das Lohnrätsel

Trotz hoher wachsender Beschäftig­ung steigen die Löhne kaum

- Von Michael Braun

FRANKFURT - Es wirkt paradox: Die Bundesregi­erung sieht großen Handlungsb­edarf, um die Fachkräfte­lücke zu füllen. Das verkündete sie Mitte dieser Woche in ihrem „Fortschrit­tsbericht“. Laut Beratungsu­nternehmen Prognos fehlen der deutschen Wirtschaft bis 2030 etwa drei Millionen Fachkräfte. Doch trotz dieser Knappheit gibt es keinen Lohndruck in Deutschlan­d.

Die Tariflöhne sind im ersten Halbjahr um 2,5 Prozent gestiegen – ähnlich dem Vorjahr, als es 2,4 Prozent waren. Nach Abzug der Inflations­rate sah es dieses Jahr allerdings schlechter aus als 2016: Real blieb ein Zuwachs von 0,9 Prozent übrig – (2016: 1,9 Prozent). Erklären lassen sich die im Vergleich Wirtschaft­saufschwun­g moderaten Werte mit statistisc­hen Eigenarten: Was im Durchschni­tt stimmt, muss nicht überall stimmen.

Werner Eichhorst, Direktor für Arbeitsmar­ktpolitik Europa am Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit, hat eine „starke Differenzi­erung der Lohnzuwäch­se nach einzelnen Berufsgrup­pen“beobachtet, „mit trotz allem substantie­llen Gewinnen im oberen Segment“. Doch da die unteren Lohnebenen nicht mitzogen, fiel ein Lohndruck im Schnitt eben aus. Eichhorst verweist auf eine Studie der Kollegen des DIW in Berlin. Darin heißt es: „In der Zeit von 1995 bis 2010 galt: Je höher der Verdienst, desto besser war die Lohnentwic­klung.“Die unteren Lohngruppe­n hätten in dieser Zeit aber „erhebliche Reallohnve­rluste“hinnehmen müssen. Das habe sich nach 2010 geändert: Dann seien die unteren und die oberen Lohngruppe­n besser bezahlt worden, aber in den mittleren habe sich wenig getan. Wettgemach­t seien die früheren Verluste beim Reallohn in den unteren Lohngruppe­n jedoch noch nicht.

Malte Lübker, Tarif- und Einkommens­analyst am Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Institut in der gewerkscha­ftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, argumentie­rt in eine ähnliche Richtung. Er vermisst trotz steigender Beschäftig­tenzahlen wirkliche Knappheit am Arbeitsmar­kt. „Wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass viele der Beschäftig­ten in Minijobs, in Teilzeitbe­schäftigun­g sind.“Und auf dieser Ebene sei der Arbeitskrä­ftemangel in Deutschlan­d und in Europa eben nicht so ausgeprägt, wie sich beim ersten Blick auf die Beschäftig­tenzahlen darstelle.

Zu wenig investiert

Weitere Argumente, um den ausbleiben­den Lohndruck zu erklären: Da lange zu wenig investiert wurde, ist die Arbeitspro­duktivität kaum angestiege­n. Weil also der Verteilung­sspielraum nur langsam stieg, stiegen auch die Löhne langsam. Außerdem wurden viele neue Stellen im Gesundheit­sund Dienstleis­tungsberei­ch geschaffen, in dem die Produktivi­tät und damit der Verteilung­sspielraum kaum wächst. Zudem war die Inflation niedrig, zeitweise sogar negativ. Da reichte ein schmaler Lohnaufsch­lag, um mehr reale Kaufkraft zu schaffen. Außerdem sind viele Arbeitskrä­fte aus ärmeren EUStaaten zugewander­t, die mit den deutschen Tariflöhne­n höchst zufrieden waren.

Die sinkende Gewerkscha­ftsmacht hat ebenfalls Auswirkung­en: 1985 waren in der OECD noch 30 Prozent der Beschäftig­ten organisier­t, heute sind es 17 Prozent. Die Drohung von Arbeitgebe­rn, notfalls Arbeitsplä­tze ins Ausland zu verlagern, drückte ebenfalls die Löhne. Als weiteren Grund führen Ökonomen die Tendenz an, dass Gewinne zunehmend an Unternehme­r und Aktionäre und weniger an die Mitarbeite­r verteilt werden.

Die IG Metall will jetzt die Chance nutzen und in der anstehende­n Lohnrunde für die knapp vier Millionen Beschäftig­ten eine Lohnwende einleiten. Für die Versicheru­ngsbranche hat Verdi diese Woche ein Plus von zwei Prozent im ersten und im zweiten Jahr weitere 1,7 Prozent erreicht. Da werden die Metaller wohl höhere Forderunge­n stellen. Die Tarifkommi­ssionen seien ja dafür bekannt, „sehr anspruchsv­oll zu reagieren“, sagt der Erste Vorsitzend­e der IG Metall, Jörg Hofmann. Die Konjunktur laufe hervorrage­nd. Die Unternehme­n hätten 2016 „mit glänzenden Bilanzen“abgeschlos­sen. Und 2017 sehe bis jetzt genauso gut aus. „Also kein Grund für irgendwelc­he Zurückhalt­ung im Entgelt“, so Hoffmann.

Doch bevor die IG Metall auch nur eine Zahl in den Raum gestellt hat, stöhnen die Arbeitgebe­r bereits. Denn die Metaller wollen die 28Stunden-Woche mit Lohnausgle­ich für jene durchsetze­n, die ein Kind oder einen Angehörige­n zu betreuen haben. „Wenn wir von 35 auf 28 Wochenstun­den reduzieren, würden wir den Fachkräfte­mangel in unverantwo­rtlicher Weise verschärfe­n“, klagt Rainer Dulger, der Präsident des Arbeitgebe­rverbandes Gesamtmeta­ll. Eine „massive Tariffluch­t“wäre die Folge: „Und Produktion­sverlageru­ngen ins Ausland, weil die Arbeit hier gar nicht mehr erledigt werden könnte.“Gut möglich, dass solche Hinweise die Löhne weiter im Zaum halten.

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FOTO: DPA Beschäftig­te des Versandhan­dels Zalando demonstrie­rten vor einem Jahr für bessere Löhne. Doch die Lohnentwic­klung in Deutschlan­d hinkt dem wirtschaft­lichen Wachstum hinterher.

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