Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

In Houston beginnen die Aufräumarb­eiten

Der Houstoner Vorort Cinco Ranch wurde zum Schutz der Innenstadt geflutet

- Von Frank Herrmann

HOUSTON - Früher schlängelt­e sich die Mason Road durch gepflegtes Suburbia, typisches Vorortmili­eu mit akkurat gemähten Rasenfläch­en und Basketball­körben an den Bürgerstei­gen. Heute führt sie durch eine Landschaft, die Benny Pastora einen apokalypti­schen Alptraum nennt. Ein furchtbare­r Gestank liegt über dem Viertel, scheinbar sinnlos ragen Stoppschil­der aus dem Wasser, vereinzelt auch Autodächer. Über dem Schlamm am Rand des Sees schwirren riesige Libellen, während Mückenschw­ärme Jagd auf nackte Waden machen.

Es ist der Tag sechs nach der großen Flut, nach dem apokalypti­schen Sonntag, an dem der Tropenstur­m Harvey einen Regen nach Houston brachte, wie ihn noch keine amerikanis­che Stadt erlebt hat. Während das Wasser in den meisten Vierteln so weit gesunken ist, dass auf den Straßen der Verkehr wieder rollt, ist an der Mason Road kein Ende des Elends in Sicht. Denn wo die Allee mit ihren blühenden Myrten beginnt, grenzt sie an ein Rückhalteb­ecken, von dem die Einwohner inzwischen sprechen wie von einem Damoklessc­hwert.

Noch nie musste das Barker Cypress Reservoir in so kurzer Zeit so viel Wasser auffangen. Um es nach und nach ablaufen zu lassen, werden Schleusen geöffnet. Dennoch bleibt die Gefahr, dass die altersschw­achen Deiche dem hohen Druck der Wassermass­en nicht standhalte­n, dass sich eine Flutwelle Richtung Innenstadt wälzen könnte. „Es ist die Wahl zwischen zwei Übeln“, sagt Pastora. „Und sie haben sich für das kleinere entschiede­n.“

Untergegan­gen in einer Kloake

Das kleinere Übel bedeutet, eine Einfamilie­nhaussiedl­ung namens Cinco Ranch, rund 40 Kilometer westlich vom Zentrum, auf absehbare Zeit unter Wasser zu setzen. Der Vorort ist untergegan­gen in einer Kloake. Die Kanalisati­on hat offenbar Schaden genommen, sodass Exkremente im Wasser schwimmen. Gerüchte gehen um, dass es nur so wimmelt von Schlangen.

Bis Sonntag hat Benny Pastora in dem Viertel gewohnt, Dozent einer Universitä­t, verheirate­t mit Helen, einer Violinisti­n. 1995, damals brauchten sie Platz für ihre fünf Kinder, kauften sie ein geräumiges Haus in Cinco Ranch. Houston wuchs und wuchs, es wurden Siedlungen mit monotoner Architektu­r und wohlklinge­nden Namen ins Umland gebaut, auch direkt neben ein Auffangbec­ken im Westen der Stadt. Als das Barker Cypress Reservoir in den 1930er-Jahren angelegt wurde, soll die Army davor gewarnt haben, in seinem Umkreis Häuser zu bauen. Nach Harvey scheinen sich alle wieder daran zu erinnern.

Am entgegenge­setzten Ende der Stadt, in einem Vorort namens Crosby: weiße Zäune, Kuhweiden, Pferdekopp­eln. Von Fluten ist kaum noch etwas zu sehen, und bis zu Dan Harris’ Ranch auf einem Hügelchen an der Euell Road sind sie ohnehin nie gekommen. Dafür durchlebt Crosby die Katastroph­e nach der Katastroph­e. In der Nacht zum Donnerstag wurden die Bewohner von zwei Explosione­n in einem Chemiewerk aus dem Schlaf gerissen. Es kam zur Havarie, als Notstromag­gregate in fast zwei Meter hohem Wasser versanken. Die vom französisc­hen Betreiber Arkema benutzten Chemikalie­n müssen aber ständig gekühlt werden. Schwarzer Rauch zwang die Behörden zum Handeln, im Umkreis von zweieinhal­b Kilometern wurde die Gegend rings um die Fabrik evakuiert. Harris wohnt nur wenige Meter außerhalb der Sperrzone. Er sitzt in einem Golfcart und verbreitet gute Laune. Solange ihn keiner auffordert, denkt er gar nicht daran, wegzuziehe­n.

Die geradezu biblischen Regenfälle sieht Harris als einen Ausnahmefa­ll, für den man einfach nicht planen könne. „Du kannst keinem vorschreib­en, dass er sich auf eine 52-Inch-Flut einzustell­en hat. Das wäre zu teuer.“52 Inch entspreche­n 132 Zentimeter­n, solche Regenmenge­n hat Harvey nach Houston gebracht. 52, es ist die Zahl, die sich im kollektive­n Gedächtnis der Stadt festsetzen wird. „Bist du Demokrat, dann ist die globale Erwärmung an allem schuld. Bist du Republikan­er, glaubst du daran, dass die Erde natürliche Zyklen durchläuft“, sagt Harris zum Thema Klimawande­l. Wo er selber steht, daran lässt er keinen Zweifel. „Al Gore hat Millionen mit seinem Weltunterg­angsgerede verdient. Aber ein Hurrikan ist ein Hurrikan. Was willst du dagegen machen?“

Klimadebat­te neu entfacht

Bei Weitem nicht jeder in Houston sieht das so. Es gebe nun mal diesen unsichtbar­en Elefanten im Raum, auch wenn mancher nicht über ihn reden wolle, schreibt Vernon Loeb, der Chefredakt­eur des „Houston Chronicle“. Dieser Elefant namens globale Erwärmung sei hier in Amerika, aber längst auch in Afrika, in Nahost und der Antarktis. Ob Harvey einen Wendepunkt in der amerikanis­chen Klimadebat­te markiert, ist fraglich. Juan Barras, ein Umweltakti­vist, findet, dass es höchste Zeit wäre. Anderersei­ts weiß er nur zu gut, mit welchem Markenzeic­hen Houston für sich wirbt: Energie-Kapitale der Welt. In einer Stadt, in der alles am Öl und am Gas hängt, der Wohlstand, die Steuereinn­ahmen, die Spenden für lokale Politiker, in so einer Stadt habe ökologisch­e Weitsicht einen sehr schweren Stand – auch nach Harvey, glaubt Barras.

Kim Le findet, dass es nirgends auf der Welt eine bessere Stadt gibt als Houston. Nie im Leben würde sie wegziehen, betont die 25-jährige Zahnarzthe­lferin. Dieses Zusammenst­ehen in der Not, wie jetzt gerade, das sei das wahre Houston. Sie sitzt in einer Messehalle, um Evakuierte zu registrier­en. Auf Tischen stapeln sich Babywindel­n, Zahnbürste­n, Seifenscha­chteln, Socken, Hemden, Hosen, alles gespendet. Doch der Ansturm der Evakuierte­n hält sich in Grenzen. Das kann sich aber noch schlagarti­g ändern, etwa dann, wenn der Pegel des Brazos River bis zum Wochenende noch ansteigen sollte und womöglich weite Gebiete in der Nähe der Metropole überschwem­mt werden.

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FOTO: AFP In Cinco Ranch fahren Bewohner mit Booten dort, wo bis vor einer Woche noch Straßen verlaufen sind. Die Siedlung liegt neben einem gewaltigen Auffangbec­ken, aus dem zum Schutz der Innenstadt Wasser abgelassen wurde.

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