Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Kürbis kontra Rübe
Wie Halloween einen alten Brauch verdrängt.
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RAVENSBURG - „Es hängt alles mit unseren Urängsten zusammen. Da ist der Rübengeist nur ein sanfter Vertreter des gleichen Komplexes“, sagt ein hoch philosophisch gestimmter Jürgen Hohl, der als Unikum und historisches Langzeitgedächtnis von Oberschwaben in Weingartens Zunfthof sein Atelier betreibt. Dort restauriert er Trachten oder gestaltet sie neu. Anders ausgedrückt: Das Brauchtum quillt aus jeder Pore des 73-Jährigen. Unnötig zu erwähnen, dass Jürgen Hohl so ziemlich alles weiß, was mit Oberschwaben zu tun hat. Und wenn er es ausnahmsweise mal nicht wissen sollte, kennt er jemanden, der die Antwort dann schon parat hat.
Eigentlich wollte er erst gar nicht so viel dazu sagen, zu den herbstlichen und frühwinterlichen Gebräuchen in unserer Region, die Halloween alsbald verdrängt hatte. „Des isch emmer so – das Volk übernimmt immer alles vom Sieger.“Sagt Hohl und spielt damit eben auf Halloween an, das seinen Ursprung in Irland hat, mit irischen Einwanderern nach Amerika kam und seither von dort aus auf einem noch immer andauernden Siegeszug über den Rest der Welt ist.
Ein kleines bisschen wurmt es Jürgen Hohl aber schon, wenn er an den Brauch des Rübengeisterschnitzens denkt. Aus oberschwäbischer Sicht sei das jedenfalls der bessere Halloween-Kürbis, weil die Rübe etwas mit der Region und ihren Menschen zu tun habe: „In der Landbevölkerung wurden halt immer die Dinge genommen, die man hatte.“Und was hat man mehr als reichlich, wenn man Zuckerrüben großflächig anbaut? „Zuckerrüben natürlich!“, ruft Jürgen Hohl aus, dass sein prächtiger Schnurrbart nur so wackelt. Der Rübengeist ist zwar – genauso wie die Anbaugebiete von Futter- oder Zuckerrüben – ein wenig im Rückzug begriffen. Allerdings besteht kein Anlass zur Sorge, er könne in absehbarer Zeit komplett aus der Region verschwinden. Dafür sorgen schon Traditionen wie der Rübengeisterumzug in Riedlingen, den der Stadtund Kreisbauernverband BiberachSigmaringen zum 22. Mal auf die Beine stellte. Auch in Bad Buchau geisterten Kinder mit ihren selbst geschnitzten Rüben durch die Stadt.
Die kinderkünstlerische Bearbeitung der Feldfrucht funktioniert übrigens ähnlich wie beim Kürbis: Die Rübe wird meist mittels einem Löffel ausgehöhlt, möglichst grausige Gesichter werden hineingeschnitten und schließlich mit einer Kerze zum schauerlichen Leuchten gebracht. Vorteil zum Kürbis: Eine beleuchtete Rübe ist zum Beispiel im Rahmen eines Umzuges ohne weiteres transportabel, was bei den ständig größer zu werden scheinenden Kürbissen gänzlich unmöglich ist. Im Gegensatz zu Halloween verkleiden sich die Kinder nicht, lassen sich aber gerne auf ihren Zügen durch die Straßen mit süßen Kleinigkeiten belohnen. Dabei werden Sprüche aufgesagt. Das für Halloween typische „Süßes, sonst gibt’s Saures“hört sich im Schwäbischen dann ungefähr so an: „Wir sind die Rübengeister, wir haben einen Meister, der Meister hat befohlen, wir sollen etwas holen.“
Trübes Wetter – Zeit für Geister
Und warum diese ganze Geisterei? Jürgen Hohl hat mehr als nur eine Antwort: „Früher glaubte man an Geistwesen und Aberglaube war weit verbreitet, weil man sich die Natur nicht hat erklären können.“Eine Möglichkeit, um sich selbst die Angst zu nehmen sei gewesen, in der Karikatur Dinge lächerlich zu machen. Und ihnen damit den Schrecken, das Bedrohliche zu nehmen. „Überlegen Sie mal, wie es früher in der Übergangszeit mit Raureif und Nebel war. Da ist es den Leuten schon komisch geworden.“Da habe er tief hinabblicken müssen, in seine eigene Vergänglichkeit, der Mensch, vor dem Hintergrund fallender Blätter und sterbender Gräser.
In diesem Zusammenhang fällt Jürgen Hohl noch ein weiterer Brauch ein, der Klopferstag. Dabei haben Kinder früher – weiß geschminkt wie Wiedergänger, gekleidet in Lumpen – mit dem Ruf „Klopf, Klopf Hämmerle“an die Fenster der Häuser geklopft, um ein wenig Essen zu erbitten. In Bayern existiert dieser Brauch vereinzelt noch heute. Im Advent ziehen Kinder von Haus zu Haus und sagen Sprüche, wie etwa im Landkreis Günzburg, auf: „I klopf, i klopf ans Lädale no, was i krieg des nehm i o, Äpfale, Birele, Nuss – d’Klopfer standat duss!“
Auch diesen Brauch verortet Jürgen Hohl im Umfeld vieler Traditionen, die dem Tod mehr oder weniger die Zunge herausstrecken, um ihm den Schrecken zu nehmen. „Den Tod, vor dem wir alle Angst haben, lächerlich machen. Darum geht es. Schon im Kasperletheater heißt es ,Ich bin der Tod, ich bin der Tod und werd’ Dich holen!’ Und der Kasper erwidert ,Ich werde dir den Arsch versohlen!’“Der Umgang mit den Unsicherheiten des harten Lebens von einst, das Bezwingen der Umstände, das Mutmachen in Anbetracht der eigenen Ängste.
Jeder kennt Angst
Und heute? Halloween? Alles nur noch Kommerz? Globales Marketing? Nicht ganz, glaubt Jürgen Hohl: „Sich im Spiel die Angst zu nehmen vor dem eigenen Ende – das setzt sich immer fort.“Und solle ihm niemand erzählen, er habe niemals Angst. „Wer das behauptet, lügt wie gedruckt.“Heute aber wählten die Menschen oft vermeintliche Helfer wie Alkohol und Drogen, um geschützt vor den negativen Überraschungen des Lebens zu sein. Sein Rat stattdessen hat zwar mit Rübengeistern, Halloween oder Klopferstag nichts zu tun, dennoch: „Gehen Sie mal wenn nichts los ist, in die Basilika, setzen Sie sich hin und lassen Sie den Blick ein paar Minuten schweifen. Ich garantiere Ihnen, dass sie als leicht veränderter Mensch wieder aus der Kirche kommen.“