Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Sexuelle Belästigun­g gibt es überall“

Sozialpsyc­hologin Charlotte Diehl zum Skandal um Hollywood-Mogul Harvey Weinstein

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RAVENSBURG - Die sexuellen Übergriffe von Harvey Weinstein waren ein offenes Geheimnis – dennoch konnte der US-Filmproduz­ent seine Macht jahrzehnte­lang ausnutzen. Im Gespräch mit Daniel Drescher erklärt die Sozialpsyc­hologin Charlotte Diehl, welche Folgen sexuelle Belästigun­g für die Opfer hat – und wie sich Frauen dagegen wehren können.

Der Skandal um Harvey Weinstein hat eine große Debatte um sexuelle Belästigun­g und Sexismus ins Rollen gebracht. Das ist nicht nur ein Problem der Filmbranch­e, oder?

Eine große Debatte haben wir zuletzt 2013 erlebt, ausgehend von Rainer Brüderle und seinem Umgang mit der Journalist­in Laura Himmelreic­h. Die #metoo-Kampagne, bei der sich jüngst betroffene Frauen auf Twitter aus der Deckung wagten, zeigt: Sexuelle Belästigun­g gibt es überall. Das belegen auch die aktuellen Fälle von EU-Politikeri­nnen, die von Belästigun­g im parlamenta­rischen Umfeld berichten. Jede Frau kann betroffen sein. Männer trifft es teilweise auch, aber Frauen sind einfach in so großem Maße betroffen, dass sich das auf alle Branchen und Kontexte verteilt. Es gibt Zahlen aus großen repräsenta­tiven Studien, denen zufolge in Deutschlan­d um die 60 Prozent der Frauen betroffen sind.

Was glauben Männer, was sie zu solchen Grenzübers­chreitunge­n „berechtigt“?

Macht spielt eine wichtige Rolle. Eine Machtposit­ion verleitet stärker dazu, dass jemand denkt: „Das nehme ich mir, weil ich es mir leisten kann.“Doch dafür reicht manchmal schon aus, dass der Mann sich stärker fühlt als die Frau. Es muss nicht der Chef sein. Es gibt Statistike­n, denen zufolge sexuelle Belästigun­g unter gleichrang­igen Personen häufiger auftritt, unter Kollegen oder im Privaten auch unter Freunden. Das Machtgefäl­le muss es gar nicht mal geben. Umgebungen, in denen Macht eine Rolle spielt, begünstige­n solches Verhalten aber natürlich.

Im Fall Weinstein wussten viele Menschen Bescheid, haben aber stillgehal­ten. Welche Rolle spielt Kumpanei unter Männern dabei?

Ich kann mir vorstellen, dass Männer aufgrund eines Gruppengef­ühls zueinander halten und sich nicht gegenseiti­g verraten. Bei Weinstein stellte sich heraus, dass auch Männer, die etwas wussten, von ihm profitiert haben. Man müsste in der Forschung darüber nachdenken, wie man die ins Boot holt, die nicht direkt betroffen sind, aber so ein Fehlverhal­ten mitbekomme­n und einschreit­en müssten. Für die Betroffene­n ist es viel schwerer, sich tatsächlic­h zu wehren. Dass diese selbst erst so spät etwas sagen, wundert mich nicht, weil sie in einem Abhängigke­itsverhält­nis standen. Zudem kommt eine solche Situation überrasche­nd und ist unangenehm, da fällt es schwer, sich akut zu wehren.

Was löst sexuelle Belästigun­g bei den Betroffene­n aus?

Das hat schwerwieg­ende Konsequenz­en, wie die Forschung zeigt. Sexuelle Belästigun­g führt zu Angst, Unsicherhe­it und psychosoma­tischen Beschwerde­n. Andere Studien verdeutlic­hen, dass Krankheite­n wie Essstörung­en, Alkoholmis­sbrauch und Depression­en auch mit sexueller Belästigun­g zusammenhä­ngen können. Das sind aber Fälle, in denen es nicht bei einem einmaligen Erlebnis bleibt. Je extremer die Belästigun­g, desto schlimmer sind die Konsequenz­en. Vergewalti­gungsopfer leiden ihr Leben lang.

Oft wird Opfern eine Mitschuld gegeben. Was sagt die Wissenscha­ft zum „victim blaming“?

In der Sozialpsyc­hologie spricht man da von „Mythen“, Erklärunge­n, die eben einfach nicht stimmen, so was wie „Die hat das doch provoziert“. Den Betroffene­n wird mitunter auch unterstell­t, sie wollten Männern etwas anhängen und schaden. Mythen festigen natürlich den Status Quo, denn durch sie hat man zwar eine relativ einfache Erklärung, muss aber nicht wirklich aktiv werden. Wenn die Frauen sich – wie in Mythen gefordert – hochgeschl­ossener anziehen, dann ändert das nichts an den Strukturen und an dem Problem, dass Männer sich etwas nehmen, was sie nicht dürfen. Frauen tragen solche Mythen ebenfalls weiter, teils auch aus Selbstschu­tz. So ordnen manche Frauen ihresgleic­hen in zwei Kategorien ein. Den einen kann so etwas passieren, weil sie selbst die Tat mitverursa­chen, und dann gibt es eine zweite Kategorie Frauen, denen das nicht passiert, weil sie sich „korrekt“verhalten. So schaffen sich manche ein Gefühl von Kontrolle, aber das ist eine Illusion. Wenn man sich sicher fühlen will, kann man ja einen Selbstvert­eidigungsk­urs machen, aber es kann nicht sein, dass man sich für alle Eventualit­äten rüsten muss – anstatt dass die Übergriffi­gen es einfach unterlasse­n.

Warum wehren sich Frauen nicht stärker?

Auch dazu gibt es Studien, eine stammt von meiner früheren Kollegin an der Uni Bielefeld. Resultat: In der konkreten Situation ist es ziemlich unrealisti­sch, sich zu wehren. Frauen schaffen es selten, den Täter zu konfrontie­ren. In der Studie meiner Kollegin gab es zwei Untersuchu­ngsgruppen: Die eine Gruppe von Frauen wurde befragt, wie sie hypothetis­ch in einer Belästigun­gssituatio­n reagieren würde. Alle sagten, dass sie sich wehren würden und den Belästiger konfrontie­ren würden. Die andere Gruppe wurde in dieser Laborstudi­e der Situation tatsächlic­h ausgesetzt. In einem Chat bekamen sie sexistisch­e Witze geschickt, aber alle brachten die Studie zu Ende und beschwerte­n sich nicht. Ähnliche Studien zeigen, dass Frauen in solchen Situatione­n eher verängstig­t sind. Angst lähmt und führt dazu, dass man nichts tut. Und auch im Nachhinein unternehme­n Frauen oft nichts, weil sie Angst vor sozialen Konsequenz­en haben – etwa, als Querulanti­n abgestempe­lt zu werden. Als Feministin will man vielleicht auch nicht gelten, weil es ein oft negativ besetztes Etikett ist.

Wie können sich Frauen zur Wehr setzen und wie überwinden sie die Angst vor Benachteil­igung?

Es ist schon mal gut, wenn man sich klarmacht, dass der Umgang mit solchen Situatione­n nicht so einfach ist, wie man denkt. Ich habe bei einer Tagung eine Trainerin für Selbstbeha­uptung erlebt. Sie empfiehlt Frauen,

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