Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Mit breitem Kreuz und guten Manieren
Die neue X-Klasse von Mercedes soll ein bisschen Luxus in den Pick-up-Markt bringen
● egen ihn ist der Mercedes GLA ein Spielzeugauto, und selbst GLE oder GLS wirken irgendwie beengt und bescheiden. Denn wenn Mercedes im November zu Preisen ab 37 294 Euro die X-Klasse an den Start bringt, gibt es bei den Schwaben zum ersten Mal auf der Buckelpiste Platz in Hülle und Fülle. Und das gilt nicht nur für die Passagiere, sondern mehr noch fürs Gepäck. Schließlich handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Geländewagen, sondern um den ersten Pick-up im Zeichen des Sterns. Zwar spricht Volker Mornhinweg, der als Leiter der Van-Sparte auch diesen Neuzugang verantwortet, bei dem 5,34-Meter-Monster gerne vom Lifestyle-Laster und bezeichnet die X-Klasse als erstes Premium-Modell unter den Pritschenwagen. Doch zielt der Bulle von Benz weniger auf die feinen Herren im Boss-Anzug, sondern vor allem auf Handel, Handwerk, Gewerbe und alle jene, die sich in der Freizeit gerne mit etwas größeren Gerätschaften beschäftigen.
GDafür versuchen sich die Schwaben an einem schwierigen Spagat: Denn auf der einen Seite braucht so ein Auto ein breites Kreuz, muss Europaletten tragen und mit Gabelstaplern spielen können. Nicht umsonst liegt die Nutzlast bei 1,1 Tonnen, nicht ohne Grund hat die Pritsche hinter der Doppelkabine eine Fläche von 1,5x1,5 Metern, und sinnigerweise kann die X-Klasse stolze 3,5 Tonnen an den Haken nehmen. Auf der anderen Seite aber erwartet man bei einem Mercedes gewisse Manieren: Ein bisschen mehr Lack und Leder, Finesse und vor allem Fahrkultur als in dieser Klasse üblich müssen es deshalb schon sein.
Übernahmeteile von Nissan
Und als wäre die Spreizung nicht schon schwer genug, müssen sie dabei auch noch auf einer fremden Basis aufsetzen. Denn weil die Mittel knapp und die Margen klein sind, hat Mercedes die X-Klasse nicht selbst entwickelt oder von den eigenen SUV abgeleitet, sondern auf dem Navara des Kooperationspartners Nissan aufgesetzt. Von außen sieht man davon relativ wenig, weil die Designer einen guten Job gemacht haben. Und auch innen fühlt man sich mit dem Cockpit aus der A- und dem Lenkrad aus der C-Klasse, dem Touchcontroller für das CommandSystem aus der E-Klasse und dem freistehenden Navibildschirm aus dem GLE erst einmal daheim in der Mercedes-Welt. Doch auf den zweiten Blick erkennt man relativ viele Übernahmeteile von Nissan.
Klar, für einen Pick-Up sieht das alles nobel aus. Doch an die vornehme V-Klasse kommt der Pritschenwagen nicht heran, und verglichen mit GLE & Co ist die X-Klasse eben doch ein nüchternes Nutzfahrzeug. Das gilt nicht nur fürs Ambiente und die Ausstattung, die mit Life-Traffic für die Navigation, Verkehrszeichenerkennung, Brems- oder Spurhalteassistent und LED-Scheinwerfern die Zwickmühle der unterschiedlichen Ansprüche noch einmal unterstreicht, weil sie bei den Nutzfahrzeugen neue Maßstäbe setzt und bei den Pkw-Kunden trotzdem einige Wünsche – wie eine automatische Abstandsregelung oder klimatisierte Sitze – unerfüllt lässt. Diese Zwitterrolle spiegelt sich auch im Preis wider: Verglichen mit einem halbwegs ähnlichen VW Amarok ist die XKlasse immerhin 7000 Euro teurer, gegenüber einem vergleichsweise kleinen GLC spart man in etwa den gleichen Betrag.
Auch beim Blick unter die Haube macht sich erst einmal eine gewisse Ernüchterung breit. Denn in dem riesigen Bug steckt ein vergleichsweise winziger Motor, der ebenfalls von Nissan kommt. Zwar planen die Schwaben für das nächste Jahr ein eigenes Triebwerk mit einem V6-Diesel, der aus immerhin 3.0 Litern Hubraum 258 PS und 550 Newtonmeter schöpft und serienmäßig mit permanentem Allradantrieb kommt. Doch los geht es erst einmal mit einem japanischen 2,3-Liter, der im X220d auf 163 und im X250d auf 190 PS kommt.
In der Theorie treibt das einem erst einmal die Mundwinkel nach unten. Doch in der Praxis reicht ein Druck auf den Startknopf, um sie schnell wieder aufzurichten. Natürlich kann Mercedes nicht zaubern, die 450 Newtonmeter Drehmoment müssen schon bei knapp 2,3 Tonnen Leergewicht ordentlich arbeiten. Ein Geschwindigkeitsrausch ist also nicht zu erwarten. Doch zumindest in Sachen Fahrkultur trägt die XKlasse den Stern zurecht: Der Vierzylinder zwingt sich zu einem höflichen Flüsterton, selbst auf der rabiatesten Rüttelstrecke hört man kein Knistern und kein Klappern, und wenn man mit 120 Sachen durch ein Autobahnkreuz kurvt, bleiben die Hände trocken. Dass der sanfte Riese trotzdem ein harter Kerl ist, merkt man dann spätestens im Gelände, wo sich die X-Klasse tapfer durch den Schlamm wühlt.
Doch vor der ultimativen Bewährungsprobe drückt sich Mercedes genauso wie VW vor sieben Jahren mit dem Amarok: Auf dem USMarkt, im Mutterland der Pick-ups, tritt die X-Klasse erst einmal nicht an.