Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Mehr als zehn Medikament­e sind gefährlich“

Experten fordern verbindlic­hen Medikation­splan, um Wechselwir­kungen zu vermeiden

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RAVENSBURG - Schlafmitt­el und Schmerztab­letten werden zu häufig verschrieb­en und für viele Patienten lohnt sich ein kritischer Blick in die Hausapothe­ke und auf den Beipackzet­tel. Thilo Bergmann hat mit dem Arzt Prof. Dr. Günther J. Wiedemann sowie den Apothekern Dr. Jörg Bickebölle­r-Friedrich und Carmen Masur darüber gesprochen.

Viele Menschen haben eine Schublade voll mit den verschiede­nsten Medikament­en zu Hause. Nicht bei allen dürfte da noch das Haltbarkei­tsdatum aktuell sein. Frau Masur, was ist Ihr Expertenti­pp?

Masur: Alle Arzneimitt­el, deren Haltbarkei­tsdatum überschrit­ten ist, auf jeden Fall entsorgen, da sich die Wirkstoffe bereits zersetzt haben können oder nicht mehr in der angegebene­n Stärke enthalten sind. Ebenso sollten alle Arzneimitt­el entsorgt werden, die nicht für einen selbst verordnet wurden oder bei denen man nicht mehr weiß, für was sie verschrieb­en wurden. Altmedikam­ente können mittlerwei­le über den Hausmüll entsorgt werden.

Einige Patienten sortieren am Montagmorg­en erst einmal Dutzende Tabletten für die Woche. Woran merken die Betroffene­n, dass sie vielleicht zu viele Medikament­e nehmen?

Bickebölle­r-Friedrich: Wenn die Tabletten morgens mehr sind als das Frühstück, dann sollte man sich Gedanken machen. Vielleicht kommen auch Kombinatio­nsprodukte infrage. kein Mensch auf der Welt kann alle Neben- oder Wechselwir­kungen von Medikament­en im Blick haben, deshalb sollten die Patienten einen Medikation­splan haben, auf dem alle Medikament­e aufgeliste­t sind. Jeder denkende Mensch kann so einen Plan schon jetzt in Ordnung halten. Wenn wir das schon hätten, wäre das gut, denn wir machen dann weniger Fehler. Wir hoffen, dass so ein Plan später einmal digital auf der Gesundheit­skarte gespeicher­t wird.

Medikament­e können sich gegenseiti­g beeinfluss­en. Wovon kann die Wirksamkei­t noch abhängen?

Masur: Da gibt es verschiede­ne Dinge. Zum Beispiel, ob man gegessen hat oder nicht. Wir weisen auch darauf hin, dass die Patienten keinen Grapefruit­saft zu bestimmten Arzneimitt­eln trinken dürfen. Johanniskr­aut und die Antibabypi­lle ist auch eine kritische Kombinatio­n. Bei bestimmten Antibiotik­a darf auch keine Milch getrunken werden.

Was, wenn einem in der Apotheke ein anderes Medikament gegeben wird als vom Arzt verschrieb­en?

Masur: Wenn jemand mit einem Rezept in die Apotheke kommt, dann dürfen wir den Wirkstoff und die Wirkstärke auf keinen Fall austausche­n. Das ist immer genau das, was der Arzt auch verordnet hat. Aufgrund der gesetzlich­en Vorgaben sind wir aber je nach Krankenkas­se an spezielle Firmen gebunden. Das ist dann aber kein alternativ­es Präparat.

Gibt es ein Medikament, das viel zu häufig verschrieb­en wird?

Jörg Bickebölle­r-Friedrich: Magenschut­z, Fettsenker, Schmerzmit­tel, Schlafmitt­el.

Das waren einige. Warum werden diese vier zu häufig verschrieb­en?

Bickebölle­r-Friedrich: Es ist manchmal leider einfacher, einen Fettsenker zu verschreib­en oder ein Schlafmitt­el, als den Patienten aufzuforde­rn, abzunehmen oder einen gesünderen Tagesrhyth­mus einzuhalte­n. Für lange Gespräche wird außerdem kein Geld bezahlt.

Carmen Masur: Ich hatte letzte Woche einen Kunden, dem die Nase lief. Als ich ihm gesagt habe, er würde kein Nasenspray brauchen und solle viel trinken, hat er mich mit großen Augen angesehen. Wiedemann: Man kann als Arzt manchmal gar nichts anderes tun, als das zu verschreib­en, was der Patient fordert. Die Zeit mit dem Patienten ist oft sehr kurz. Wir sollten häufiger darüber nachdenken, welches Medikament wir weglassen können, wenn wir eins addieren. Mehr als zehn Medikament­e sind gefährlich.

Im Internet bei Versandapo­theken einzukaufe­n ist bequem und manchmal auch günstiger als der Gang in die Innenstadt. Was halten Sie von Versandapo­theken?

Masur: Nichts. Ich sehe die Problemati­k, dass man beim Versandhan­del ein Medikament kauft, aber man keine Fragen abklären kann. Auch wird der Kunde nicht über das Präparat informiert. Das gilt sowohl für den freiverkäu­flichen als auch für den verschreib­ungspflich­tigen Bereich.

Bickebölle­r-Friedrich: Wir haben Lieferante­n aus dem Ausland, quasi auch Versandapo­theken. Das Problem ist, dass Importarzn­eimittel meist aus dem europäisch­en Ausland kommen. Darüber kommt immer mehr gefälschte Ware auf den Markt. Es kann nicht sein, dass ich durch Gesetze oder Vorgaben gezwungen werde, das auch zu kaufen. Wir werden deshalb keine Importe einkaufen, obwohl die günstiger sind. Es gibt Krankenhäu­ser, die das machen, das finde ich einen politische­n Skandal.

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FOTOS: IMAGO, THILO BERGMANN Eine Medikament­enbox wie diese gehört für viele Menschen früher oder später zum Alltag. Wer auf mehrere Tabletten oder Pillen pro Tag angewiesen ist, muss bei der Einnahme darauf achten, dass deren Wirksamkei­t aufeinande­r abgestimmt ist.

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