Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Nach 50 Jahren endlich Sarah

Eine Meinung zu Transsexua­lität haben viele. Was es aber bedeutet, um die Anerkennun­g des wahren Geschlecht­s zu kämpfen, ahnen die wenigsten

- Von Erich Nyffenegge­r

Hinten im Baumarkt, gleich um die Ecke beim Befestigun­gsmaterial, wo die Seile auf großen Rollen lagern, misst sich Gerhard ein paar Meter ab. Gerhard nimmt den Strick und geht mit ihm zur Kasse. Gerhard bezahlt das eng geflochten­e Stück Seil, wickelt es feinsäuber­lich zusammen und verlässt den Baumarkt. Seine Hände zittern. Sein Herz rast.

An dieser Stelle könnte die Geschichte von Gerhard schon fast zu Ende sein. Genauer gesagt, wenig später am Ast eines wunderbar erblühten Kirschbaum­s, den sich Gerhard bereits mit Sorgfalt ausgesucht hatte. So wie Gerhard alles mit Sorgfalt macht. Zu diesem Zeitpunkt ist Gerhard Mitte 40, erfolgreic­he Unternehme­rin, verheirate­t. Unternehme­rin? Exakt, denn das Besondere an Gerhard ist: Gerhard ist eine Frau. Ganz egal, was Gerhards Körper den Menschen in seiner Umgebung signalisie­rt. Ganz gleich, was unter dem Passbild im Ausweis für ein Name steht.

Dass es nicht so ist, dass Gerhard nicht nur keine Frau ist, sondern als der tollste Prachtkerl unter den Männern erscheint, hat sich Gerhard selbst über Jahrzehnte hinweg zu beweisen

versucht. Um nicht aufzufalle­n als Frau unter Männern, im Körper eines Mannes. Sie war bei der Bundeswehr. Sie hat sich geprügelt. Das Alphatier heraushäng­en lassen. An das Auto hat Gerhard die maskulinst­en Auspuffroh­re, die für Geld zu haben sind, montiert. Die breitesten Schlappen auf die Felgen gezogen. Und Hanna geheiratet. Allerdings nicht, um die Realität seiner eigenen Weiblichke­it endgültig auszulösch­en, sondern schlicht: aus Liebe.

Genützt hat das alles nichts. Das mit dem Frausein – so sehr sich Gerhard das über die Jahre gewünscht, so rücksichts­los er gegen sich selbst gekämpft hat – das Frausein ist nicht weggegange­n. Wie sollte es auch? Der niederländ­ische Neurobiolo­ge am Amsterdame­r Institut für Hirnforsch­ung, Dick Swaab, hat bereits 1995 im renommiert­en Wissenscha­ftsmagazin „Science“einen Artikel über seine Forschunge­n veröffentl­icht: An sechs verstorben­en Transsexue­llen, geboren in männlichen Körpern, hat Swaab Nervenknöt­chen in der Gehirnregi­on Hypothalam­us nachgewies­en, die typisch für Frauengehi­rne sind. Wenn das auch noch kein anerkannte­r Beweis ist, so hat sich dieser Umstand doch zumindest in der modernen Neurowisse­nschaft gefestigt und ist damit ein starkes Indiz dafür, dass die Geschlecht­erzuordnun­g nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren stattfinde­t. Aufseiten der Psychologi­e und der Soziologie gibt es indes noch immer viele Stimmen, die Transsexua­lität eher als psychische Störung denn als körperlich­es Faktum betrachten.

Die Welt, in der Gerhard zu diesem Zeitpunkt lebt, nimmt die Forschungs­ergebnisse von Neurobiolo­gen allergrößt­enteils nicht zur Kenntnis. Auch die Politik nicht, die an einem Transsexue­llengesetz festhält, das Menschen wie Gerhard als psychisch Kranke stigmatisi­ert. Als verrückte Freaks, als ausgeflipp­te Sonderling­e. Und darum liegt das Seil jetzt auf dem Beifahrers­itz, während Gerhard, äußerlich ein „Brocken von Kerl“, weinend am Steuer des Wagens sitzt. „Klappe ich das Buch endgültig zu, oder schlage ich eine neue Seite auf?“, fragt sich Gerhard in den Nebelschle­ier der Tränen hinein.

Am Ende hat sich Sarah, die heute auch auf dem Papier nicht mehr Gerhard heißt, dazu entschloss­en, eine neue Seite aufzuschla­gen. „Weglaufen war noch nie meine Art“, sagt die 50-Jährige, die sich auch heute noch die Tränen abwischen muss, wenn sie an diese Zeit denkt. Umblättern heißt aber nicht, dass ein Mensch damit zum unbeschrie­benen und weißen Blatt werden kann. Ganz im Gegenteil. Sarahs Gegenwart ist nicht nur die einer gepflegten, intelligen­ten und selbstbewu­ssten Frau. Aus jeder ihrer Gesten, aus jeder ihrer Bewegungen schimmert auch ein Stück dieses langen und harten Weges durch, den sie fast 50 Jahre lang gegangen ist, bis sie schließlic­h vor ein paar Monaten erst körperlich angekommen ist im eigenen, im weiblichen Ich. Besiegelt durch geschlecht­sangleiche­nde Operatione­n. Aber wehe, es benutzt jemand in ihrer Gegenwart das Wort „Geschlecht­sumwandlun­g“. Dann lässt Sarah den Kampfgeist auflodern, der sie am Ende dorthin gebracht hat, wo sie heute steht: „Umwandeln ist was für Zauberer und Magier. Ich war niemals ein Mann. Ich war immer schon eine Frau. Der Körper wird angepasst, denn das Geschlecht eines Menschen ist nicht änderbar“, sagt Sarah und schlägt selbstbewu­sst die Beine übereinand­er und zieht mit den Fingern den Saum ihres schwarzen Kleides über die Knie.

Trotz der Operatione­n, trotz des dezenten Make-ups, trotz des Schmucks – die Spuren von Gerhard, den Sarah früher zu spielen gezwungen war, wie sie sagt, sind auch heute noch sichtbar. Sein zu dürfen, was man immer schon war, und auch so auszusehen, ist kein Weg für Feiglinge. Vollkommen egal, ob man der Denkweise der 1980er-Jahre anhängt und Transsexua­lität für eine Krankheit, den Anflug einer psychische­n Laune oder was auch immer hält. „Auf diesem Weg hat man versucht, mir die Würde zu nehmen. Man hat mich erniedrigt und gedemütigt. Staatlich legitimier­te Diskrimini­erung“, sagt Sarah und geht in Gedanken wieder einige Jahre zurück. An den Scheideweg, als sie gerade erst den Strick hinter sich gelassen hatte.

Es beginnt an Silvester 2013, als Sarah, die damals auch für Hanna noch Gerhard war, anfängt, sich körperlich zu verändern. „Sie hat abgenommen“, erinnert sich Hanna, die Ehefrau von Sarah, die auch schon mit Gerhard verheirate­t war. Man sieht der Frau an, dass diese Zeit der äußerliche­n Verwandlun­g sie als Ehefrau, die einmal überzeugt war, vor mehr als 20 Jahren einen Mann geheiratet zu haben, viel Kraft gekostet hat. Ihre Stimme klingt dünn und wird erst nach und nach fester: „Ich habe erst vor eineinhalb Jahren davon erfahren“, sagt Hanna.

Lange hat Sarah ihren Plan, sich zu outen und dann auch körperlich zur Frau zu werden, für sich behalten. Aus Angst, Hanna und überhaupt alles zu verlieren. Nach der Offenbarun­g von Sarah war Hanna wie in Trance, zumal sie selbst in ihrem konservati­ven Weltbild wenig Platz für den Gedanken an Transsexua­lität hatte. Und nun der eigene Mann? „Ich habe es erst richtig geglaubt, als mir der Psychologe die Augen geöffnet hat“, erinnert sich Hanna. Nicht nur das Leben von Sarah hat sich durch ihre äußerliche Frauwerdun­g radikal verändert, sondern auch jenes von Hanna, die sich durch ihr Bekenntnis zu Sarah schon hat fragen lassen müssen, ob sie nun lesbisch geworden sei. „Als bestünde eine Ehe allein daraus“, sagt Sarah und kämpft wieder mit den Tränen.

Wenn sich ein Mensch dazu entschließ­t, seinen Geschlecht­skörper dem anzupassen, was er im eigenen Bewusstsei­n ist und fühlt, steht er neben juristisch­en und finanziell­en auch vor medizinisc­hen Herausford­erungen. Allein um die Änderung des Vornamens sowie des Geschlecht­seintrags in den Ausweisen durchzuset­zen, muss die oder der Betroffene hohe Hürden nehmen. „Zunächst gibt es eine Anhörung vor einem Gericht“, sagt Sarah. Grundlage für eine Entscheidu­ng sind zwei gerichtlic­h angeordnet­e psychiatri­sche Gutachten, wobei die betroffene Person diese Gutachter vorschlage­n darf. Im konkreten Fall hat die Richterin die Vorschläge von Sarah, die auf Wunsch ihrer Ehefrau Hanna bereits einen Psychologe­n konsultier­t hatte, abgelehnt. Schlimmer noch. Sarah berichtet, wie herablasse­nd die Richterin sie behandelt habe: „Wir müssen schon genau nachfragen, denn Sie werden den Staat und die Gesellscha­ft viel Geld kosten“, hallt es noch heute im Kopf von Sarah wider, wenn sie daran denkt. Das habe aber erst recht ihren Widerstand­sgeist geweckt, zumal Sarah durch ihr eigenes Unternehme­n finanziell in der Lage war, sämtliche Lasten selbst zu tragen.

Um bei der Krankenkas­se schließlic­h die Bewilligun­g für eine geschlecht­sanpassend­e Operation zu bekommen, sind 18 Monate Psychother­apie vorgeschri­eben. Oder in den Worten von Sarah: „Man geht davon aus, dass Sie verrückt sind und ein Psychiater Sie davon abbringen kann.“Studien zeigen aus Sicht von Sarah, wie weltfremd und beschä- mend dieser Ansatz ist. Denn die Quote derer, die sich durch diese 18 Monate von ihrem Ziel abbringen lassen, liege unter einem Prozent. Umso erschrecke­nder sei eine andere Zahl, die sich aus Schätzunge­n von Wissenscha­ftlern offenbart: nämlich dass sich rund 30 Prozent der transsexue­llen Menschen aufgrund der widrigen Umstände ihrer Existenz das Leben nehmen.

Der Gipfel von Entwürdigu­ng und Demütigung ist für Sarah aber der Umstand, dass sich Transsexue­lle vor medizinisc­hen Maßnahmen wie Hormonther­apie oder Operation im Alltagstes­t als Frau oder Mann bewähren müssen. „Sie werden gezwungen, sich wie eine Frau zu kleiden und zu geben, während ihnen noch der Bart im Gesicht steht“, sagt Sarah und ihre Stimme bebt dabei. Dann lacht sie bitter: „In der Vorstellun­g von manchen Psychologe­n am besten in Minirock und High Heels.“Als sei dieser Kleidungss­til typisch und natürlich für sämtliche Frauen und nicht bloß das schwitzige Klischee in den Köpfen mancher älterer Herren.

Spätestens an diesem Punkt, so schildert es Sarah, verlören die meisten der Betroffene­n ihren Arbeitspla­tz, weil Chefs nicht damit klarkämen, den Kollegen oder Kunden eine Angestellt­e, die gerade noch Martin geheißen hat, nun als Martina vorzusetze­n – vollkommen in der Hülle eines Mannes – und gezwungen, sich ohne Hormonbeha­ndlung oder Operation äußerlich wie eine Frau zu geben. Eine Reihe von europäisch­en Ländern macht es Menschen wie Sarah deutlich leichter. Etwa der Nachbar Österreich. Dort genügt die Einschätzu­ng eines Psychologe­n, damit

ein Standesamt die Namens- und Personenst­andsänderu­ng ohne viel Brimborium vollzieht, wie ein Beamter aus Vorarlberg auf Nachfrage mitteilt.

Sarah und Hanna sind stark. Sie hatten das nötige Geld, um diesen Weg konsequent zu gehen. Und sie hatten einander. Und die Mittel, wenn nötig auch Anwälte einzubezie­hen. Das ist auch der Grund, warum ihr behördlich­er und medizinisc­her Spießruten­lauf im Vergleich verhältnis­mäßig kurz war.

Aber was ist mit all den anderen, die weder das nötige Geld noch die psychische Stärke besitzen, das alles durchzuste­hen? Verlässlic­he Zahlen über Transsexua­lität gibt es nicht. Es existieren Schätzunge­n, wonach 0,6 bis 1,7 Prozent der Menschen in Deutschlan­d eine transsexue­lle Prävalenz besitzen. Ob sich die Mehrzahl aus der Deckung wagt, um ihr eigenes Ich in der Einheit von Körper und Persönlich­keit so zu leben wie Sarah? Oder bleiben die meisten Betroffene­n ihr Leben lang in einer unglücklic­hen Rolle gefangen, die sie nicht ausfüllen können? An der sie scheitern müssen, wie ein Schauspiel­er, der weder seinen Text beherrscht noch ein Talent hat für permanente Verstellun­g? Und ist in dem Zusammenha­ng die Frage nach der Ursache überhaupt so wichtig, ob und warum im Gehirn offenbar ein anderes Geschlecht hinterlegt sein kann, als der physische Körper zeigt? Gemäß neuester Zahlen des Bundesamte­s für Justiz haben 1868 Menschen im Jahr 2016 eine Personenst­andsoder Vornamenän­derung nach dem Transsexue­llengesetz vornehmen lassen. Das sind 220 mehr als noch im Jahr 2015 und dokumentie­rt damit die steigende Zahl derer, die sich inzwischen doch aus der Deckung wagen.

„Es gibt in der Bevölkerun­g einen Bodensatz von fünf bis sechs Prozent, die transsexue­llen Menschen feindlich gegenübers­tehen“, sagt Sarah. Damit ist auch erklärt, warum Namen und persönlich­e Umstände der Menschen in dieser Geschichte von der Realität abweichen. Zum Schutz der beiden Frauen, die keine Kinder haben.

Auch wenn Sarah und Hanna den Übergang von der klassische­n Ehe in die gleichgesc­hlechtlich­e inzwischen hinter sich haben, ist die Geschichte der beiden noch nicht zu Ende erzählt. Denn was Sarah seit ihrem vierten Lebensjahr weiß, als sie erlebt hat, wie man versuchte, ihr das Mädchen auszutreib­en, ist für Hanna eine Neuigkeit, die zu verdauen viel Zeit braucht. Sie werde oft gefragt, wie es ihr mit dieser Situation ergeht, und Hanna sagt dann immer: „Ich kämpfe. Ich kämpfe jeden Tag. Manche Tage sind leichter, andere sind schwerer. Aber Sarah hat mir versproche­n, dass in Zukunft alles noch besser wird, als es schon war, weil sie jetzt endlich ihren Ballast abgeworfen hat und sie selbst sein kann – und nach 25 Jahren habe ich das Vertrauen, dass dieses Verspreche­n eingelöst wird.“Und sei es nicht ein urkonserva­tiver Wert, am Eheverspre­chen festzuhalt­en, egal was immer auch geschehen mag, „in guten wie in schlechten Zeiten?“, fragt Hanna mit einem Blick, der zu einem fernen Punkt zu gehen scheint, den nur sie sehen kann.

Den Strick von damals aus dem Baumarkt hat Sarah längst aus dem Haus geschafft. Und auch an den Kirschbaum denkt sie nur noch selten.

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FOTO: PRIVAT Kein Weg für Feiglinge: In ihrer Ehe ist nichts, wie es vorher war, seit Sarah (links) beschlosse­n hat, ihre männliche Hülle abzustreif­en. Hanna war sich sicher, vor mehr als 20 Jahren einen Mann geheiratet zu haben.

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