Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

PH hat Anlaufstel­le für Opfer sexueller Belästigun­g

Ort des Vertrauens in Weingarten – 176 Sexualdeli­kte im Landkreis erfasst

- Von Theresa Gnann

WEINGARTEN - Die meisten Studenten auf dem Campus der Pädagogisc­hen Hochschule (PH) Weingarten wehren erst mal erschrocke­n ab: „Sexuell belästigt? Nein, das wurde ich noch nie“, sagen sie. „Vielleicht gibt es ab und zu eine unangenehm­e Situation, aber belästigt? Ich weiß nicht.“Und irgendwann erzählen sie dann doch. Vom Tennislehr­er, der ihnen manchmal näherkommt, als es nötig wäre. Von Umarmungen, die viel länger dauern, als sie es möchten. Von Grapschern, nicht nur in der Disco.

„Viele Betroffene behalten das Geschehene für sich, weil sie sich schämen“, sagt Kristin Rheinwald. Sie ist seit 2014 mit Joachim Kunstmann an der PH Weingarten Ansprechpa­rtnerin für Opfer sexueller Belästigun­g. Das baden-württember­gische Landeshoch­schulgeset­z fordert Hochschule­n dazu auf, solche Ansprechpa­rtner zu benennen, an die sich Studenten und Mitarbeite­r im Falle einer Belästigun­g wenden können. Unter den Ansprechpa­rtnern soll ausdrückli­ch auch ein Mann sein, denn viele Studien belegen: Opfer sexueller Belästigun­g sind bei Weitem nicht nur Frauen. „Wir ermutigen die Betroffene­n, egal ob Mann oder Frau, die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen und sich zur Wehr zu setzen. Und wir bieten unsere Unterstütz­ung dabei an“, so Rheinwald. Die Ansprechpa­rtner bieten Gespräche im geschützte­n Raum, wollen Betroffene­n vermitteln: Ihr werdet ernst genommen.

Auf der ganzen Welt wird derzeit über das Thema diskutiert. Hunderttau­sende Frauen, darunter viele Hollywood-Stars, haben sich unter dem Schlagwort „#metoo“zu Wort gemeldet. In sozialen Netzwerken berichten sie von sexueller Belästigun­g bis hin zur Vergewalti­gung. Auslöser ist der Skandal um den Hollywood-Produzente­n Harvey Weinstein. Er soll Dutzende Frauen belästigt und einige von ihnen auch vergewalti­gt haben.

Auch hier in Deutschlan­d soll jede zweite Frau schon mal Opfer sexueller Belästigun­g geworden sein. Aber wo beginnt sexuelle Belästigun­g? Der Tatbestand steht seit einem Jahr im Strafgeset­zbuch. Der Paragraf entstand unter dem Eindruck der Kölner Silvestern­acht und soll sogenannte „Grapscherf­älle“erfassen. 176 Sexualdeli­kte wurden im vergangene­n Jahr im Landkreis Ravensburg erfasst – Tendenz steigend. Etwa 13 Prozent davon fallen unter den neuen Paragrafen. Die Dunkelziff­er ist unbekannt.

Größeres Potenzial für Übergriffe

Dass es heute mehr Fälle sexueller Belästigun­g gibt, hat aus Joachim Kunstmanns Sicht zwei Gründe: „Zum einen fühlen sich Menschen heute schneller belästigt, sind einfach ein bisschen sensibler, zum anderen gibt es in unserer Gesellscha­ft heute ein größeres Potenzial für solche Übergriffe als noch vor einigen Jahren.“Doch auch das neue Gesetz verlangt eindeutig eine körperlich­e Berührung. Verbale Belästigun­gen sind weiterhin keine Straftat. „Dabei ist sexuelle Belästigun­g etwas sehr Subjektive­s. Jede Person nimmt das anders wahr. Und jede Person hat das Recht, dass ihre persönlich­en Grenzen gewahrt werden“, sagt Rheinwald. Von noch schärferen Gesetzen, wie sie etwa Bundesfami­lienminist­erin Katarina Barley fordert, halten Rheinwald und Kunstmann wenig. „Schärfere Gesetze verändern weder die Motivation, so etwas zu machen, noch die Sensibilit­ät, sich verletzt zu fühlen. So einfach ist das nicht“, sagt Kunstmann. Aus Sicht der beiden liegt die Lösung letztlich im Diskurs und im offenen Umgang mit dem Thema.

Die Me-too-Kampagne trage ihren Teil dazu bei. „Es ist gut, dass diese Debatte stattfinde­t“, sagt Kunstmann. „Sie zeigt, dass das Bewusstsei­n wächst.“Kunstmann und Rheinwald hoffen, dass künftig noch mehr Menschen, die sich belästigt fühlen, darüber sprechen. Auch in Weingarten.

Ein Video-Interview gibt es online unter www.schwaebisc­he.de/ metoo-wgt

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