Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Lucha weist Kritik der Kreise zurück

Streit um Kosten für behinderte Menschen – Minister weist Kritik zurück

- Von Katja Korf

STUTTGART (tja) - Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) hat sich am Montag gegen Vorwürfe gewehrt, die Landesregi­erung lasse die Kreise im Stich. Sie werfen Lucha vor, sie auf den Mehrkosten für neue Zuschüsse für Menschen mit Behinderun­gen sitzen zu lassen. „Wir fühlen uns massiv getäuscht“, so der Geschäftsf­ührer des Landkreist­ages, Alexis von Komorowski. Lucha betont, das Land werde zu seinem Wort stehen und das Geld bereitstel­len – allerdings erst ab 2020, wenn die Regeln tatsächlic­h in Kraft treten.

STUTTGART - Mehr Unabhängig­keit, mehr Entscheidu­ngsfreihei­t, mehr Geld für die Angehörige­n: Das verspricht das neue Bundesteil­habegesetz (BTHG) rund 80 000 Menschen mit Behinderun­gen in BadenWürtt­emberg. Am heutigen Dienstag will Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) seinen Kollegen erklären, wie er die Regeln bis 2020 umsetzen will. Schon vorher aber protestier­en die Landkreise. Sie fühlen sich im Stich gelassen und werfen der Landesregi­erung vor, ihr Wort zu brechen. Die widerspric­ht vehement.

Bereits 2016 hatte die Bundesregi­erung beschlosse­n, die Unterstütz­ung für Behinderte grundlegen­d zu verändern. Unter anderem dürfen sie 50 000 Euro Privatverm­ögen behalten, bislang mussten sie alles über 25 000 Euro dem Staat überlassen – als Ausgleich für dessen Unterstütz­ung. Außerdem wurde auch Vermögen von Ehepartner­n einbezogen, das entfällt ab 2018.

Persönlich­es Budget

Darüber hinaus steigen die Zuschüsse für Betriebe, die Menschen mit Behinderun­gen einstellen. Damit sollen deren Chancen auf einen Job steigen. Die größte Änderung: Bisher erhält ein Betroffene­r in der Regel sein Geld für Lebensunte­rhalt und Hilfsmitte­l nicht ausgezahlt. Es fließt an die Einrichtun­g, in der er lebt oder den Vormund. Nur in Ausnahmefä­llen ist dies anders.

Ab spätestens 2020 bekommt jeder ein persönlich­es Budget. Dazu wird vorab ermittelt, welche Unterstütz­ung der Mensch benötigt, um möglichst gleichbere­chtigt am öffentlich­en Leben teilzunehm­en – also auch, um ins Kino zu gehen oder zur Arbeit zu gelangen.

Um das herauszufi­nden, entwickelt das Land bis 2020 eine Methode. Eine Arbeitsgru­ppe aus Experten des Ministeriu­ms, der Renten- und Krankenkas­sen sowie aus Behinderte­nverbänden soll Kriterien aufstellen. Eine zweite Runde wird Mustervert­räge erarbeiten. Sie legen fest, mit welchem Zuschuss ein behinderte­r Mensch unter welchen Voraussetz­ungen rechnen kann. Ziel ist es, für alle gleiche Bedingunge­n zu schaffen. Außerdem will Sozialmini­ster Lucha die Landkreise als Verantwort­liche für die Organisati­on und Auszahlung der Leistungen benennen.

Deshalb fallen dort zusätzlich­e Kosten an. Es werden mehr Mitarbeite­r nötig sein, um Behinderte persönlich zu beraten und die neuen Regeln umzusetzen. Außerdem gehen Fachleute davon aus, dass Einglieder­ungshilfen teurer werden. 2015 zahlte das Land dafür 1,74 Milliarden Euro.

Seriöse Zahlen dazu, wie sich die Ausgaben künftig entwickeln, gibt es nach Auskunft des Sozialmini­steriums nicht. Die Bundesregi­erung kalkuliert deutschlan­dweit mit Mehrkosten von 217 Millionen Euro, rund zehn Prozent würden nach Schätzung auf Baden-Württember­g entfallen – wenn das Land bereits nach den neuen Förderrich­tlinien Geld auszahlen würde. Doch diese Summe halten Experten für viel zu niedrig.

Mehrkosten in Millionenh­öhe

So sieht das auch der Landkreist­ag, die Interessen­vertretung der 44 Kreise in Baden-Württember­g. Er beruft sich auf ein Gutachten des Kommunalve­rbands Jugend und Soziales. Das prognostiz­iert bis 2020 rund 150 Millionen Euro zusätzlich­e Kosten durch das BTHG. „Laut dem Entwurf des Staatshaus­haltsplans beabsichti­gt das Land, die Land- und Stadtkreis­e auf diesen Mehrbelast­ungen sitzen zu lassen“, sagt Alexander von Komorowski, Geschäftsf­ührer des Kommunalve­rbandes. Dabei hätten Sozial- und Finanzmini­sterium vorab zugesagt, anfallende Kosten zu übernehmen. „Wir fühlen uns massiv getäuscht“, so von Komorowski.

Beide Ministerie­n weisen die Vorwürfe zurück. „Wir haben grundsätzl­ich anerkannt, dass wir zur Kostenüber­nahme verpflicht­et sind. Das werden wir auch einhalten. Ab 2020 sind dafür die rechtliche­n Voraussetz­ungen der Bundesrege­lung erfüllt – denn dann geht es erst richtig los. Weil wir den Kommunen bis dahin bei ihrer Planung helfen wollen, unterstütz­en wir sie 2018 und 2019 auf freiwillig­er Basis“, so ein Sprecher von Finanzmini­sterin Edith Sitzmann (Grüne).

Das Land will erst 2020 in die neue Förderung einsteigen. Das ist möglich, der Bund hat eine Übergangsf­rist eingeräumt. Der Grund: Sozialmini­ster Lucha hält es für dringend notwendig, vorher die Grundlagen zu schaffen. Dazu gehört zum Beispiel, ein gerechtes und solides Instrument zu schaffen, um den individuel­len Unterstütz­ungsbedarf eines Menschen zu ermitteln. Das brauche eben Zeit. Deswegen fallen nach Einschätzu­ng der Landesregi­erung erst ab 2020 deutlich höhere Kosten bei den Landkreise­n an.

Die Zeit sei notwendig, um die benötigen zusätzlich­en seriös Mittel zu kalkuliere­n, betont Luchas Sprecher. Die Vorstandvo­rsitzende des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbands Ursel Wolfgramm fordert einen verlässlic­hen Zeitplan. Darüber hinaus dürfe das zentrale Ziel des Gesetzes nicht der Geldnot zum Opfer fallen. „Unsere größte Befürchtun­g ist, dass der Paradigmen­wechsel zu mehr Selbstbest­immung für Menschen mit Behinderun­g aus fiskalisch­en Gründen nicht oder nicht ausreichen­d ernst genommen wird.“

 ?? FOTO: DPA ?? Dem Kabinett stellt Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) ein Gesetz vor, das Menschen mit Behinderun­g gleichwert­ige Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben ermögliche­n soll. Die Landkreise fürchten, auf den Kosten sitzen zu bleiben.
FOTO: DPA Dem Kabinett stellt Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) ein Gesetz vor, das Menschen mit Behinderun­g gleichwert­ige Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben ermögliche­n soll. Die Landkreise fürchten, auf den Kosten sitzen zu bleiben.

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