Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Hochbegabtenzug am Spohn hat sich etabliert
Einzugsbereich reicht bis an Bodensee und ins Allgäu – Mädchen fallen oft durchs Raster
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RAVENSBURG - Manche Eltern schicken ihren Nachwuchs trotz eines entsprechenden Testergebnisses nicht in eine Hochbegabtenklasse. „Wohl weil sie befürchten, dass ihr Kind dann zu sehr auffallen könnte“, mutmaßt Helmut Berninger, am Ravensburger Spohn-Gymnasium zuständig für die Koordination des Hochbegabtenzuges. Dennoch beobachtet Berninger, dass sich das Bewusstsein langsam, aber sicher ändert – auch am Spohn. Hing dem ersten Hochbegabten-Jahrgang 2008/09 noch ein Exotenstatus an, „hat sich das Ganze relativ schnell normalisiert“, zieht Berninger nun eine positive Bilanz.
Im vergangenen Sommer haben die ersten Hochbegabten am Spohn ihr Abitur gemacht – und im Schnitt drei Punkte besser abgeschnitten als ihre Mitschüler. Dennoch betont Berninger: „Wir sind keine Eliteschmiede.“Es gehe nämlich mitnichten darum, kleine Genies heranzuziehen – stattdessen will das Spohn als eines von insgesamt 15 Gymnasien in Baden-Württemberg Bedingungen dafür schaffen, dass diese Schüler „ihr hohes Potenzial besser entfalten können“.
Wieder Spaß an der Schule
Im Hochbegabtenzug wird beispielsweise mehr Stoff in kürzerer Zeit vermittelt – die freie Zeit können die Schüler für Zusatzangebote wie Theaterspielen, Algorithmen- oder Rhethoriktraining, Quantenphysik, Outdoor-Aktivitäten oder einen Trickfilmkurs nutzen. Vor allem aber werden sie in einem ihren kognitiven Fähigkeiten entsprechenden Tempo unterrichtet: In der Grundschule langweilen sich viele Hochbegabte so sehr, dass sie aus lauter Unterforderung zum Klassenkasper oder sonst wie aufsässig werden und im schlimmsten Fall alles verweigern. Darum bekommt Berninger von den Eltern hochbegabter Fünftklässler oft zu hören: „Jetzt geht mein Kind endlich wieder gern zur Schule.“
Zehntklässler Argjend Elezaj (15) aus Oberhofen und Achtklässlerin Sofia Luchiean (14) aus der Weststadt bestätigen das. „Hier treffen wir auf Gleichaltrige mit ähnlichen Interessen, in unserer Klasse wird jeder akzeptiert, wie er ist“, sagt etwa Argjend, der später wahrscheinlich Bauingenieur werden will. Weder von seinen Kumpels noch von Mitschülern, die nicht wie er den Hochbegabtenzug besuchen, sei er je als „Streber“angemacht worden – allenfalls Erwachsene hätten manchmal die Vorstellung, jemand wie er müsse automatisch alles wissen. „Dabei ist keiner überall super – wir galoppieren den anderen nicht davon“, stellt Sofia klar.
„Meistens haben sie recht“
Dennoch ist es für Latein- und Griechischlehrer Berninger sowohl aufregend als auch anstrengend, im Hochbegabtenzug zu unterrichten. Nicht nur, weil dort viele Schüler „ein sehr hohes Mitteilungsbedürfnis haben – jeder will zu allem was sagen“. Sondern auch, weil dort jede noch so kleine Wissenslücke oder Inkonsequenz umgehend moniert wird. Die Hochbegabten lassen ihm nichts durchgehen – „und meistens haben sie recht“. Wobei eben dies auch den Reiz an der Sache ausmache, wie Berninger lächelnd gesteht.
Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren gemerkt, dass Hochbegabte Herausforderungen lieben. Je komplizierter etwa die Lateingrammatik, umso besser für das „komplexe, vernetzte Denken dieser Kinder“– Hauptsache, keine stumpfen, monotonen Übungen. „Da muss man als Lehrer flexibel sein“, weiß Berninger.
Zwei bis drei Prozent eines Jahrgangs gelten laut Schätzungen als hochbegabt – was bedeutet, dass ihr IQ über 130 liegt. Das kann sich schon in der Grundschule bemerkbar machen – wenn ein Kind etwa einen unerschöpflichen Wissensdrang an den Tag legt oder sich selbst das Lesen beibringt, wie Berninger ausführt. Dennoch fallen nach wie vor viele Mädchen durchs Raster: Meist sind nur ein Viertel Hochbegabtenschüler eines Jahrgangs am Spohn weiblich. Was womöglich an den tradierten Rollenbildern im ländlichen Raum liegt, dass nämlich „die Mädchen funktionieren und sich anpassen“, wie Berninger vermutet. Zumindest weisen die Hochbegabtenzüge in Großstädten seines Wissens kein solch geschlechtsspezifisches Gefälle auf.
Bisher gab es nur ein Schuljahr, in dem nicht die vom Land geforderte Mindestgröße von 16 hochbegabten Schülern zusammenkam – 2013/14. Der Einzugsbereich des hiesigen Hochbegabtenzuges reicht im Übrigen bis nach Friedrichshafen, Wangen oder Pfullendorf – denn die nächstgelegenen Gymnasien mit Hochbegabten-Zug gibt es in Ulm, Tübingen und Konstanz. Was zu dem Kuriosum führt, dass in der aktuellen hochbegabten fünften Klasse kein einziges Kind aus Ravensburg sitzt.
Karin Fischer-Brehm hält am Dienstag, 28. November, 19 Uhr, im Spohn-Gymnasium einen Vortrag über das Thema Hochbegabung. Über ihre Erfahrungen im Hochbegabtenzug am SpohnGymnasium erzählen Schüler und ihr Lehrer in einem Video – zu finden unter www.schwaebische.de/hochbegabtenzug