Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Mit dem Zeppelin in die Schinken-Galaxie

Marthalers fulminante Kapitalism­us-Groteske „Mir nämeds uf öis“in Zürich

- Von Barbara Miller

ZÜRICH - Was wäre, wenn all die miesen Machenscha­ften und Eigenschaf­ten des entfesselt­en Kapitalism­us ausgelager­t würden in eine eigene Gesellscha­ft? So wie faule Kredite in einer Bad Bank? Christoph Marthaler und sein wundervoll­es Ensemble führen es am Schauspiel­haus Zürich vor.

„Mir nämeds uf öis“– auf Hochdeutsc­h: Wir nehmen es auf uns – ist ein typischer und ein gelungener Marthaler-Abend: skurril, grotesk, witzig und bei allem Klamauk auch immer melancholi­sch. Jubel im Schauspiel­haus. Und eine triumphale Rückkehr für den Theaterman­n, der dort von 2000 bis 2004 als Intendant wirkte, ehe er reichlich brüsk abgesetzt wurde, weil die Einnahmen angeblich nicht stimmten.

Ab ins All

Das Schauspiel­haus Zürich spürt den Untiefen der Macht nach und landet in Höhenorten. Während die Dokumentar­isten von Rimini Protokoll in „Weltzustan­d Davos“den CEO und Politikern auf den Gipfel des World Economic Forum in die Schweizer Alpen folgen, verlädt Marthaler seine Truppe in einen Zeppelin. Aus Friedrichs­hafen, so ist dem Programmhe­ft zu entnehmen, bekam Bühnenbild­ner Duri Bischoff viele Anregungen für den eleganten Salon, in dem sich die Passagiere von Flug MNUÖ-SW 17 versammeln.

Sie haben kein Ziel, aber eine Aufgabe. Mit ihnen wird der entfesselt­e Finanzkapi­talismus entsorgt. Und so treffen sich hier im geschlosse­nen Raum, die Seile sind gekappt, ein korrupter Baulöwe (Gottfried Breitfuß) und ein ebensolche­r Vertreter der internatio­nalen Fußsport-Organisati­on „FAFI“(Nicolas Rosat), ein Start-up-Unternehme­r „für Scheißestü­rme“ (Raphael Clamer), ein Fleischgro­ßhändler (Jean-Pierre Cornu), der nun Pfarrer geworden ist, oder ein Whistleblo­wer und Damenfrise­ur aus Bern (Ueli Jäggi), der den Südamerika­nern das Wasser abgräbt. Ein ebenso groteskes Damentrio mit Elisa Plüss, Nikola Weisse und Susanna-Marie Wrage sowie die Sängerin Tora Augestad komplettie­ren die seltsame Besatzung des Luftschiff­s auf seiner Fahrt in ferne Galaxien, durch die am Ende schwerelos Schinken schweben.

„Mir nämeds uf öis“ist so ziemlich das Gegenteil einer akademisch­papierenen Kapitalism­uskritik. Es ist vielmehr die unterhalts­amste Form, die man sich vorstellen kann, mit der Heillosigk­eit dieser Welt umzugehen und unterzugeh­en. Wie immer bei Marthalers eigenen Stücken spielt Musik eine, wenn nicht die Hauptrolle. Das Repertoire reicht dieses Mal von schmalzige­r Filmmusik über banale Schlager bis hin zum Chor der Gralsritte­r. Das wird ganz großartig interpreti­ert vom gesamten Ensemble.

Musikalisc­he Delikatess­en

Phänomenal aber sind die beiden Pianisten Bendix Dethleffse­n und Stefan Wirth. Es ist wirklich überwältig­end, wie sie von der Titelmelod­ie von „Bilitis“zum Matrosench­or aus dem „Fliegenden Holländer“wechseln. Und phänomenal ist Stefan Wirths Finale furioso aus Beethovens drittem und Tschaikows­kys erstem Klavierkon­zert, das in den Donauwalze­r mündet, bis er Jean-Pierre Cornus Arie des Donners „Schwüles Gedünst“aus „Rheingold“begleitet.

„Um etwas zu ändern, muss man sich erinnern“, heißt es einmal. Aber aus der Finanzkris­e von vor zehn Jahren haben wir nichts gelernt. Mit einem trotzigen „Weiter so“taumelt die Menschheit dem Abgrund entgegen. Auf der Bühne verlieren sich die Marionette­n der entfesselt­en Gier im All. Das „Digizän“, wie unser Zeitalter genannt wird, geht unter. Damit verstummt auch die Kakophonie aus unternehme­nsberateri­scher Pseudopsyc­hologie und inhaltslee­rem Gezwitsche­r. Übrig bleibt ein seltsames Mischwesen aus Ammonith und Elefant. Kolossal-Kalmare übernehmen die Herrschaft.

Die Zürcher Zuschauer jubeln, manche jodeln gar ob dieser vergnüglic­hen Weltunterg­angsfarce aus der Werkstatt Marthaler. Aufführung­en am 12., 15., 19., 31. Januar, 2., 15., 18., 21., 27. Februar. Telefon +41 44 258 77 77

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FOTO: TANJA DORENDORF Die Passagiere im Zeppelin nehmen alles auf sich.

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