Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Nachdenkli­ches Erzählthea­ter im Jungen Kunsthaus

Schauspiel­er Stefan Viering präsentier­t in Bad Saulgau Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner

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BAD SAULGAU (loh) - Im Jungen Kunsthaus Bad Saulgau hat der Schauspiel­er, Regisseur und Kabarettis­t Stefan Viering Jurek Beckers bekannten Roman Jakob der Lügner präsentier­t – packend, zuweilen auch sarkastisc­h oder nachdenkli­ch. Mit einer eindrucksv­ollen Vorführung machte Viering ein bedrückend­es Thema präsent.

Gemeinsam mit Jutta Berendes hatte Stefan Viering eine Textauswah­l für eine Theaterauf­führung erarbeitet: Jakob Heym, ein Insasse des Ghettos Lodz, hört durch Zufall auf dem Revier eine Radiomeldu­ng mit, nach der ein Angriff der russischen Armee im etwa 400 Kilometer entfernten Beschanike abgewehrt wurde. „Da sind die Russen jetzt“, sagte sich Jakob. „Das ist eine gute Nachricht. Kann man gute Nachrichte­n für sich behalten?“, sinniert der Erzähler Viering und wägt ab: Der Informant wird für alle Folgen seiner Botschaft verantwort­lich gemacht. Wo will er das gehört haben? Auf dem Revier? Das hätte man diesem Jakob wirklich nicht zugetraut, dass er ein Spitzel ist. Am Güterbahnh­of hat Jakob die Nachricht seinem Kumpel Mischa erzählt, als dieser versuchte, Kartoffeln aus dem Waggon zu stehlen. Aber: „Diese Rotznase glaubt einem nicht.“Und so behauptet Jakob, um sich zu rechtferti­gen: „Ich habe ein Radio.“

Von jetzt ab interessie­ren sich alle für Jakob, wollen mit ihm arbeiten und fragen: „Was gibt es für Neuigkeite­n? Stimmt das mit dem Radio?“. Als er immer mehr bedrängt wird, erklärt er, die Russen seien drei Kilometer vorgerückt. „Die Lüge ist Jakob ganz leicht über die Lippen gekommen“, lässt Viering den Erzähler sagen, denn die Hoffnung darf nicht einschlafe­n: „Seit gestern ist morgen auch noch ein Tag“, heißt es jetzt, und die Selbstmord­ziffer sinkt auf Null. Freilich sind nicht alle begeistert von dem geheimen Radio: so betet der fromme Jude Herschel: „Gott, vernichte das Radio.“Tatsächlic­h beginnt die Glühbirne zu flackern, für zwei Tage fällt der Strom aus. Ein Spezialtru­pp stellt dann fest, dass ein Rattenschw­arm die Kabel durchgebis­sen hat. „Und wo bleibt der Widerstand?“, fragt der Erzähler nach der Pause. „Man hätte mich nur fragen müssen, ich hätte mitgemacht.“Dann steht der fromme Herschel am Abstellgle­is: da war doch eine menschlich­e Stimme im Waggon. „Hört ihr mich da drin?“ruft er. Dann erschallt ein „trockener Schuss“: Viering knallt die Faust auf den Tisch und kommentier­t lakonisch: „Gott hat Herschel eins gehustet.“

Wie alle Leute, bettelt auch die kleine Lina, die Jakob bei sich wohnen lässt: „Zeigst du mir morgen dein Radio?“Jakob geht schließlic­h mit ihr in den Keller, simuliert mit Krächzen Radiogeräu­sche. Viering bekommt für sein Poltern und Gestikulie­ren riesigen Sonderappl­aus. Dann lässt Jakob den Radiosprec­her ein Interview mit Winston Churchill führen, in dem dieser sagt: „Nur noch drei Wochen und sie haben Lodz fest in ihren Händen.“Jakob erklärt anschließe­nd euphorisch: „Ein Lügner mit Gewissensb­issen wird sein Leben lang ein Stümper sein.“

Als aber die Transporte in die Vernichtun­gslager immer mehr zunehmen, befällt Jakob eine riesige Schwäche und Mutlosigke­it. Er beichtet Kowalski: Er hat kein Radio und er weiß auch nicht, wo die Russen sind. Am Tag darauf wird Kowalski an einem Strick gefunden, der von seinem Fenster hängt.

Und wie sieht das Ende aus? Der Erzähler bietet drei Möglichkei­ten an: Entweder Kowalski darf wieder auferstehe­n, weil Jakob auf ein Geständnis verzichtet hat. Oder Jakob erzählt eine letzte, glaubhafte Lüge: dass sein Radio verstummt sei. Dann versucht er, über den Gemüsemark­t zu fliehen, dort wird er abgeschoss­en. Kurz darauf kommt das russische Heer, und die Befreiten schütteln alle den Kopf: „Der wusste doch, dass die Russen kommen!“.

Das wirkliche Ende: Im Ghetto hängt eine Bekanntmac­hung aus, dass man sich um 13 Uhr am Bahnhof einzufinde­n und die Wohnung in sauberem Zustand zu hinterlass­en habe. Jakob packt Linas Sachen, sie fahren in einem engen Waggon durch ein Waldgebiet. Viering alias Jakob hatte schon anfangs über Bäume sinniert. Auch jetzt schaut er aus dem Fenster auf die Bäume mit den Worten: „Wir fahren, wohin wir fahren.“

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