Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Neue humanitäre Katastrophe im Norden Syriens erwartet
I● n Syrien ist die von Russland und Iran gestützte Regierung von Präsident Baschar al-Assad entschlossen, das gesamte Land militärisch zurückzuerobern. Syrische Regierungstruppen haben einen Großangriff auf die von Dschihadisten beherrschte Provinz Idlib gestartet. Die Offensive hat eine Massenflucht aus mindestens 90 Dörfern und Kleinstädten in der an die Türkei grenzenden Provinz Idlib ausgelöst.
Bis zu 70 000 Menschen sollen nach UN-Erkenntnissen Haus und Hof verlassen haben. Die Suche nach einer Behelfsunterkunft ist extrem schwierig, da in der bitterarmen Provinz Idlib bereits 1.2 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens untergebracht wurden und die nahegelegene Türkei keine neuen Flüchtlinge aufnehmen will.
Angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe verlangt der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu den sofortigen Stopp der syrische Offensive, weil der Angriff in einer von Russland und Iran geschaffenen, sogenannten „Deeskalationszone“durchgeführt werde. Auf ihrem Vormarsch nach Norden erhält die syrische Armee wahrscheinlich auch russische Luftunterstützung. Der Direktor der Union of Medical Care and Relief Organizations (UOSSM), Ahmad al-Dbis, warf der Assad-Regierung „systematische Attacken auf Spitäler“in der Region vor. Ohne eine medizinische Versorgung bliebe der Bevölkerung nur die Flucht.
Damaskus bestreitet die Anschuldigungen. Der Angriff richtete sich gegen das mit Al-Kaida verbündete Rebellennetzwerk Hayat Tahrir alSham (Befreiungsfront für die Levante), das etwa 80 Prozent der Provinz Idlib kontrolliert und die Schaffung eines sunnitischen Gottesstaates nach dem Vorbild der Taliban anstrebt. Dem Dschihadisten-Bündnis gehören mehr als 150 verschiedene Gruppierungen an. Unter ihnen sind Extremistenverbände aus dem Kaukasus, Zentralasien und China, deren Hauptquartier am Wochenende bei einem Drohnenangriff zerstört wurde. 30 Kämpfer kamen dabei ums Leben.
IS kontrolliert 40 Ortschaften
Am Mittwoch sind bei der Explosion eines Munitionslagers in Slinfa östlich der Hafenstadt Latakia mindestens drei Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Menschen seien verletzt worden, hieß es aus syrischen Militärkreisen. Die Region unweit der Provinz Idlib ist eine Hochburg der Anhänger von Assad. Eine Rebellengruppe reklamierte den Zwischenfall für sich: Es sei gelungen, ein Munitionslager zu sprengen, teilte die Abu Amara Brigade mit.
Nutznießer der syrischen Offensive in der Provinz Idlib ist paradoxerweise auch der sogenannte Islamische Staat (IS). Die Terrororganisation übernahm in den letzten Tagen die Kontrolle über mehr als 20 Dörfer in den Provinzen Hama und Idlib, aus denen die Kaida-nahe Levantefront ihre Kämpfer überstürzt abgezogen hatte. Insgesamt kontrolliert der IS in dieser Region nun 40 Ortschaften.
Auch am Nordufer des Euphrat kann sich der Terrormiliz noch immer gegen die von den USA gestützten Demokratischen Kräfte Syriens behaupten. Eine „Wiederauferstehung“des IS halten Experten für unwahrscheinlich. Zu einzelnen Terrorüberfällen und Anschlägen sei die Gruppe aber weiterhin in der Lage, weil sie noch immer aus dubiosen Quellen mit Geld und Waffen versorgt werde.