Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Leben retten durch Tempo 80

Die geplante Maßnahme der französisc­hen Regierung stößt auf breiten Widerstand

- Von Christine Longin

PARIS - Die südfranzös­ische Kleinstadt Mazamet wurde am 17. Mai 1973 auf einen Schlag berühmt. In einer spektakulä­ren Aktion legten sich ihre Bewohner zwischen wild durcheinan­der geparkten Autos reglos auf die Straße, um gegen die hohe Zahl von Verkehrsto­ten zu protestier­en. 16 545 waren es 1972 gewesen – etwa die Einwohnerz­ahl von Mazamet. 45 Jahre später ist Mazamet wieder in aller Munde, denn seit 2014 steigt die Zahl der Verkehrsto­ten jährlich an. Eine Entwicklun­g, wie Frankreich sie seit dem schwarzen Jahr 1972 nicht mehr kannte. 3477 Tote zählte das Innenminis­terium 2016, dem letzten ausgewerte­ten Jahr. Im internatio­nalen Vergleich schneidet Frankreich schlecht ab: 2015 erfasste das EU-Statistika­mt Eurostat dort 5,4 Verkehrsto­te pro 100 000 Einwohner; in Deutschlan­d waren es 4,3.

Die Regierung will deshalb mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen die Sicherheit auf den Straßen erhöhen. Besonders umstritten ist die Einführung von Tempo 80 statt bisher 90 auf zweispurig­en Landstraße­n, die von Juli an gelten soll. Bis zu 400 Verkehrsto­te könnten so verhindert werden, rechnen Experten vor. „Wenn man unpopulär sein muss, um Leben zu retten, dann will ich das gerne sein“, verteidigt­e Premiermin­ister Edouard Philippe in der Zeitung „Journal du Dimanche“die Maßnahme, die laut einer Umfrage 59 Prozent der Franzosen kritisiere­n.

Guillaume Peltier, stellvertr­etender Vorsitzend­er der konservati­ven Republikan­er, sprach von „Marketing“und schlug stattdesse­n eine Besteuerun­g der Autobahnbe­treiber vor, um Geld für eine Erneuerung des Straßennet­zes zu bekommen. Auch der rechtspopu­listische Front National will einen Plan zur Verbesseru­ng der Straßen vorlegen und kündigte eine Petition gegen die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung an.

Der Automobilv­erband 40 millions d’automobili­stes, der bereits 600 000 Unterschri­ften gegen die Reform sammelte, zieht gerne Deutschlan­d als Vergleich heran. Die Verkehrssi­cherheitsb­ehörde verwies allerdings darauf, dass auch dort nur Tempo 100 gilt, wenn die Straßen gut sind. „Außerdem respektier­en die deutschen Autofahrer die Geschwindi­gkeitsbesc­hränkung genau – im Gegensatz zu ihren französisc­hen Kollegen.“

In Frankreich passieren 55 Prozent der tödlichen Unfälle auf Landstraße­n. Deshalb hatte bereits der frühere Innenminis­ter Bernard Cazeneuve 2015 drei Teststreck­en ausgewählt, auf denen Tempo 80 galt. Als wissenscha­ftliche Studie taugte das Experiment nicht, da es mit zwei Jahren zu kurz war. Doch es gab insgesamt weniger Unfälle ohne weitere Staus. Die Bewohner der Versuchsre­gionen waren allerdings nicht von der Geschwindi­gkeitsbegr­enzung überzeugt: „80 Stundenkil­ometer sind dumm, denn man muss immer auf den Tacho schauen und wird überholt“, sagte der Bürgermeis­ter der Testgemein­de Coursonles-Carrières, Jean-Claude Denos, im Radiosende­r France Info.

Mehr Zustimmung bekommen die anderen Maßnahmen, die die Regierung plant. So sollen die Strafen für das Telefonier­en am Steuer, das für ein Zehntel der Unfälle verantwort­lich ist, verschärft werden. Wer beispielsw­eise in der Nähe einer Schule oder eines Fußgängerü­berwegs mit dem Handy am Ohr erwischt wird, könnte den Führersche­in entzogen bekommen. Auch auf Alkohol soll künftig härter reagiert werden. Wiederholu­ngstäter könnten künftig nur noch losfahren, nachdem sie einen Alkoholtes­t absolviert haben.

Außerdem sollen Fußgänger und Radfahrer stärker geschützt werden. So soll der Verkehr rund um Zebrastrei­fen so organisier­t werden, dass Autofahrer zum Anhalten gezwungen sind. Bisher ist das in Frankreich selten der Fall. Wer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist, gilt als Verkehrste­ilnehmer zweiter Klasse.

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FOTO: DPA Neue rote Linie: In Frankreich soll bald Tempo 80 gelten.

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