Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Inklusion wird oft mit Überforder­ung verbunden“

Heidi Fischer vom Ravensburg­er Institut für Soziale Berufe spricht sich für einen verstärkte­n Einsatz von Heilpädago­gen aus

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RAVENSBURG - Vor rund zweieinhal­b Jahren ist die Inklusion im baden-württember­gischen Schulgeset­z verankert worden. Seither können Kinder mit Behinderun­gen sowohl an Sondereinr­ichtungen als auch an allgemeine­n Schulen in den Unterricht gehen. Genauso wie die Inklusion zielt auch das Bundesteil­habegesetz darauf ab, dass behinderte Menschen besser und selbstbest­immter am Leben teilhaben können. Heidi Fischer, Fachbereic­hsleiterin Heilpädago­gik am Institut für Soziale Berufe in Ravensburg, sieht dadurch große Herausford­erungen für die Gesellscha­ft. Ihrer Meinung nach seien jetzt vor allem Heilpädago­gen gefragt. Im Gespräch mit Jasmin Bühler erklärt sie, was diesen Beruf ausmacht, warum Heilpädago­gen an Schulen zum Einsatz kommen sollten und warum Inklusion ihr zufolge zu einem „verbrannte­n Begriff“geworden ist.

Frau Fischer, was genau machen Heilpädago­gen?

Sie arbeiten mit Menschen, bei denen der Handlungsb­edarf über die allgemeine Pädagogik hinausgeht – zum Beispiel mit Kindern, die auffällig sind oder Beeinträch­tigungen haben. Ein Kriterium ist, dass die Umwelt mit ihren Verhaltens­weisen nicht zurechtkom­mt. In diesem Sinne sind Heilpädago­gen bei der Umsetzung der Inklusion eine wichtige Berufsgrup­pe.

Am Institut für Soziale Berufe in Ravensburg gibt es die Möglichkei­t, sich zum Heilpädago­gen ausbilden zu lassen. Für wen ist die Ausbildung gedacht?

Es ist eine Weiterbild­ung für Erzieher, Jugend- und Heimerzieh­er und Heilerzieh­ungspflege­r. Wir bieten sie berufsbegl­eitend über den Zeitraum von drei Jahren an. Die Weiterbild­ung ist sinnvoll, weil pädagogisc­he Fachkräfte im Arbeitsall­tag oft an ihre Grenzen stoßen. Sie kommen mit den ihnen bekannten Mitteln nicht weiter. Als Heilpädago­ge hat man ein breiteres Spektrum an Handlungso­ptionen und ein komplexere­s Wissen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

In einer Kita ist ein Junge mit Migrations­hintergrun­d und Entwicklun­gsverzöger­ungen. Er wird im Rahmen der Frühförder­stelle gefördert. Seine Eltern wollen, dass er in eine Regelschul­e kommt. Der Junge arbeitet nach seinen Möglichkei­ten mit und tut alles, was von ihm verlangt wird. Doch die Schule sträubt sich. Die zuständige Heilpädago­gin hat die Aufgabe, zum Wohle des Jungen mit allen Seiten zu kommunizie­ren und Verständni­s zu schaffen. Sie übernimmt sozusagen die solidarisc­he Anwaltscha­ft für ihn.

Was bedeutet das?

Das Kind mit seinen Entwicklun­gsmöglichk­eiten steht im Mittelpunk­t. Auch seine Umwelt muss so gestaltet sein, dass sie für ihn passt und nicht nur umgekehrt. Es muss sich selbst erfahren können, seine Stärken entdecken und Erfolge erleben – und das im Rahmen seines Könnens und seines eigenen Tempos. Schwierig wird es, wenn das Kind und die Eltern in „Entwicklun­gsstress“kommen.

Arbeiten Heilpädago­gen nur mit Kindern?

Nein. Ihr Einsatzgeb­iet ist ganz viel- fältig. Dazu gehören Kindertage­seinrichtu­ngen, Jugendhilf­e, Behinderte­nhilfe, sozialpädi­atrische Zentren, sonderpäda­gogische Bildungs- und Beratungsz­entren oder psychiatri­sche Kliniken. Mit dem Bundesteil­habegesetz tun sich noch viele weitere Möglichkei­ten auf: beispielsw­eise als unabhängig­e Teilhabebe­rater für Menschen mit Behinderun­gen oder sogar als Berater für Kommunen und Landkreise. Eine wichtige Aufgabe wäre auch die des pädagogisc­hen Assistente­n im Regelschul­dienst.

Inwiefern sind Heilpädago­gen an Schulen sinnvoll?

Also wenn Sie mich persönlich fragen, sollte es – um den Rechtsansp­ruch auf inklusive Bildung umzusetzen – an jeder Bildungsei­nrichtung einen Heilpädago­gen geben, der Teil eines multiprofe­ssionellen Teams ist. Denn die Heilpädago­gen haben einen guten Blick für das Gesamte. Bei ihnen steht nicht der Lehrplan oder das Lernziel im Fokus, sondern der Mensch in seinen sozialen Bezugssyst­emen. Sie sehen dessen individuel­le Ressourcen, aber auch behindernd­e Barrieren. Und sie können rechtzeiti­g auf Problemkon­stellation­en hinweisen. Meistens werden Heilpädago­gen nämlich erst hinzugezog­en, wenn es brennt. Aber dann ist schon viel geschehen und das Selbstbewu­sstsein des Kindes im Keller. Der Berufs- und Fachverban­d Heilpädago­gik hat bereits einen Antrag beim Kultusmini­sterium eingereich­t, der den Einsatz von Heilpädago­gen im Regelschul­dienst fordert.

Wie würden Sie die Fortschrit­te bei der Inklusion bewerten?

Inklusion ist mittlerwei­le leider zu einem verbrannte­n Begriff geworden. Denn er wird oft mit Überforder­ung verbunden – mit überforder­ten Lehrern, Eltern und Kindern. Ich denke, dass die Umsetzung bisher zu kurz greift und vielerorts nicht gelingt. Die Folge ist, dass sich Eltern behinderte­r Kinder aus Frustratio­n häufiger für Sondereinr­ichtungen entscheide­n.

Was könnte besser gemacht werden?

Die Bedingunge­n im Hinblick auf Personal, räumliche oder fachliche Voraussetz­ungen müssen passend gemacht werden. Eltern und Kinder sollten die Wunsch- und Wahlfreihe­it haben, ob sie eine Regelschul­e bevorzugen oder ein sonderpäda­gogisches Bildungs- und Beratungsz­entrum. Inklusion und inklusive Bildung sind hohe Ziele. Eine nur strukturel­le Umsetzung der Inklusion führt nicht automatisc­h zu inklusiven Haltungen und entspreche­nder Qualität in Bildungsei­nrichtunge­n. Besonders in der frühkindli­chen Bildung kann und müsste Inklusion gelingen. ANZEIGE

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SYMBOLFOTO: DPA Die allgemeine Pädagogik stößt bei der Inklusion oft an ihre Grenzen, meint Heidi Fischer. Hingegen hätten Heilpädago­gen „ein breiteres Spektrum an Handlungso­ptionen“.
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FOTO: IFSB Heidi Fischer ist Fachbereic­hsleiterin Heilpädago­gik.

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