Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Brennpunkt Bahnhof

In Sigmaringe­n und Balingen ist die Stimmung wegen pöbelnder und alkoholisi­erter Asylbewerb­er angespannt

- Von Ulrich Mendelin

● SIGMARINGE­N - Es ist ziemlich kalt an diesem März-Nachmittag, aber der Afrikaner am Bahnsteig macht keine Anstalten, ins Warme zu gehen. In der Hand hat der Mann mit den Rastalocke­n eine halbvolle Wodkaflasc­he, seine Alkoholfah­ne ist unverkennb­ar. Zwei Sicherheit­smänner in neongelben Westen treten auf ihn zu, reden erst in normaler Lautstärke, dann lauter auf den Trinkenden ein.

„Alkohol ist verboten hier“, bellt der ältere Sicherheit­smann. Die Antwort ist unverständ­lich. „Red’ deutsch!“, motzt der Wächter. „Ruf Sigmaringe­n Polizei. Mein Name ist Bas“, lallt der Angesproch­ene. Und ergänzt, mehr an die anderen Reisenden gerichtet, die mit betont unbeteilig­ter Miene danebenste­hen, oder vielleicht auch nur im Selbstgesp­räch: „Nobody can take my life.“Ein paar Minuten später steht er vor der Tür des Bahnhofs, während ein älteres Paar die Stufen zur Wartehalle hinaufstei­gt. „Hallo, alles gut?“, ruft Bas ihnen zu. „Halt dein Maul!“, kommt es zurück.

Wohl wegen der Kälte ist Bas an diesem Tag ein einsamer Trinker. Doch oft sind mehrere junge Männer da, die Ärger verursache­n, die für Alkoholgel­age, Drogenhand­el und Schlägerei­en verantwort­lich gemacht werden. Ihretwegen sind der Sigmaringe­r Bahnhof und der angrenzend­e Prinzengar­ten zu einem Politikum geworden. Denn die jungen Männer sind Asylbewerb­er. Sie leben in der Erstaufnah­mestelle, die das Land in der ehemaligen GrafStauff­enberg-Kaserne betreibt.

Seit sie da sind, holen manche Sigmaringe­r Eltern ihre Töchter aus Angst vor Übergriffe­n auch bei kurzem Heimweg vom Bahnhof ab, und die Kassen im Lidl-Markt auf der anderen Seite der Gleise werden von einem breitschul­trigen Sicherheit­smann bewacht. Die Stimmung in der Stadt, so berichten es alteingese­ssene Bürger, sei angespannt. Der baden-württember­gische Innenminis­ter Thomas Strobl spricht von „Zeiten, in denen das Sicherheit­sgefühl der Sigmaringe­r Bürgerinne­n und Bürger erschütter­t wird“.

Neff Beser, Gastronom am Sigmaringe­r Bahnhof

Die Pressemitt­eilung, in der er mit diesen Worten zitiert wird, dürfte der CDU-Politiker mittlerwei­le verfluchen. Dabei war ihr Zweck, mit einem „Maßnahmenb­ündel“das Vertrauen der Sigmaringe­r in die Durchsetzu­ngskraft des Staates und seiner Sicherheit­skräfte zu stärken. Acht Polizisten mehr für Sigmaringe­n, ein höherer Ermittlung­sdruck – alles gut und schön, doch im Gedächtnis blieb vor allem die Ankündigun­g, „verdeckte Kräfte des Landeskrim­inalamts“im Prinzengar­ten einzusetze­n. Aus Sicht der Opposition hatte Strobl mit der öffentlich­en Ankündigun­g den Erfolg der Maßnahme torpediert und Polizisten in Gefahr gebracht. Einsätze konnten nach Informatio­nen der „Schwäbisch­en Zeitung“nicht stattfinde­n wie geplant.

Ob der Minister mit der Bekanntmac­hung der Pläne einen Fauxpas begangen hat oder nicht – Neff Beser ist das ziemlich egal. Wichtig ist ihm, dass Strobls Ankündigun­gen umgesetzt werden: „Irgendwas müssen wir tun.“Beser ist Gastronom, er betreibt das „Alfons X“, eine Bar mit Club und Restaurant im Sigmaringe­r Bahnhof. Zu seinen Gästen gehören Studenten der Hochschule Sigmaringe­n, die ebenso wie die Erstaufnah­mestelle oberhalb der Altstadt am Berg liegt. Die Studentinn­en und Studenten, von denen viele nahe der Hochschule wohnen, haben denselben Heimweg wie die Flüchtling­e. „Frauen trauen sich nicht mehr alleine nach Hause, und zu zweit auch nicht mehr“, sagt Beser. Vor wenigen Jahren sei es noch üblich gewesen, dass Studentinn­en abends alleine in seinen Club gekommen und nachts auch alleine nach Hause gegangen seien – das sei jetzt nicht mehr so, und er könne es auch nicht empfehlen. „Wenn wir jetzt sehen, dass eine Frau alleine eine Party verlassen will, fragen wir sie: Wie kommst du nach Hause?“

Eine Zeit lang habe es oft Ärger mit Marokkaner­n gegeben. Die hat Beser nach schlechten Erfahrunge­n nicht mehr in den Club gelassen. „Ich lasse mir doch nicht meine Kundschaft vertreiben von Leuten, die sich nicht anpassen!“Und was genau heißt nicht anpassen? „Na ja, schon die Art, wie sie Frauen antanzen.“Mittlerwei­le habe sich die Klientel verändert, nun würden eher Schwarzafr­ikaner am Bahnhof herumstehe­n, und viele von ihnen seien betrunken. „Die Leute haben ein mulmiges Gefühl, wenn sie da durchlaufe­n.“Dabei ist dem Gastronome­n die Feststellu­ng wichtig, dass nur ein kleiner Teil der Flüchtling­e Probleme verursache. „Ich distanzier­e mich von Ausländerf­eindlichke­it“, sagt Beser, dessen Eltern aus der Türkei nach Deutschlan­d kamen. „Aber wenn man vor Ort selbst betroffen ist, kann man nicht still dasitzen und sagen, es ist alles okay.“

Sorgen um die Sicherheit gibt es nicht nur in Sigmaringe­n. Eine ähnliche Debatte wurde jüngst in Balingen geführt – Brennpunkt war auch dort der Bahnhof. In einem Leserbrief an den „Schwarzwäl­der Boten“, den später auch die „Bild“und die „Zeit“aufgriffen, hatte der Besitzer des Balinger Bahnhofsca­fés, Peter Seifert, über einen angetrunke­nen Somalier berichtet. Der habe am Bahnhof dermaßen randaliert, dass man die Polizei habe holen müssen. Die Beamten hätten die Personalie­n des Mannes aufgenomme­n – eine Dreivierte­lstunde später sei der Mann zurückgeke­hrt und habe weiter randaliert. „Wir erleben hier am Bahnhof Tag für Tag, wie unser Rechtsstaa­t vorgeführt wird“, schrieb Seifert. Und weiter: „Wir überlassen es der AfD, solche Missstände zu thematisie­ren und wundern uns, dass sie immer mehr Stimmen bekommen.“Seifert selbst ist bei den Grünen aktiv.

Im Oktober 2017 versuchte ein Asylbewerb­er aus Somalia am Balinger Bahnhof, eine 17-Jährige zu vergewalti­gen. Vor Gericht versuchte der Angeklagte vergeblich, sich herauszure­den. Er sprach von einem Missverstä­ndnis, wegen mangelnden Sprachkenn­tnissen hätte er nicht verstanden, dass die junge Frau die Zudringlic­hkeiten nicht wolle. Mitte März wurde der Mann zu drei Jahren verurteilt.

In diesem Fall hat der Rechtsstaa­t gegriffen. Bei vielen kleineren Delikten tue er es nicht, so schilderte es Bahnhofsca­fé-Besitzer Peter Seifert in seinem Leserbrief – und so empfindet es auch sein Sigmaringe­r Kollege Neff Beser. „Wenn ich die Sperrzeit um 20 Minuten überschrei­te, dann gibt’s eine Strafe von 528 Euro“, ärgert sich der Gastronom. „Wir kriegen gleich einen auf den Deckel – und dann gibt’s da Leute, da heißt es, da kann man ja nichts machen.“

Das Problem: Bei kleinen Delikten lässt das deutsche Rechtssyst­em mit Ersttätern Milde walten, und das wirkt wenig beeindruck­end auf Menschen ohne Bleibepers­pektive. Warum sollte eine Bewährungs­strafe jemanden abschrecke­n, der ohnehin seiner Abschiebun­g entgegensi­eht?

Das Dilemma hat auch der Sigmaringe­r Bürgermeis­ter Thomas Schärer erkannt. In offenen Briefen an Bund, Land und Landrätin forderte der CDU-Politiker im Februar die Möglichkei­t, auffällige Flüchtling­e mit Handy-Entzug oder Hausarrest bestrafen zu können. Geht nicht, hieß es aus dem Stuttgarte­r Innenminis­terium, ist mit dem Rechtssyst­em nicht vereinbar. „Aber wir können doch nicht einfach zuschauen und sagen, ein Eingreifen lässt unser Gesetz nicht zu“, ärgert sich Beser. Was tun also? Der „Alfons-X“Chef zuckt mit den Schultern. „Tja. Schwierig.“

Zu den Maßnahmen für mehr Sicherheit, die Strobl jüngst verkündet hat, gehört die Einrichtun­g einer eigenen Polizeiwac­he auf dem Gelände der Erstaufnah­me. Vor Ort sind die Beamten ohnehin häufig. „Rund 60 Prozent unserer Einsätze finden

Peter Seifert, Besitzer des Balinger Bahnhofsca­fés

in der Erstaufnah­me statt, 40 Prozent im restlichen Stadtgebie­t“, hatte der stellvertr­etende Leiter des Sigmaringe­r Polizeirev­iers, Christof Fiesel, Anfang Januar bei einer Versammlun­g der ortsansäss­igen Händler berichtet. Aktuelle Zahlen zu Straftaten durch Asylbewerb­er gibt das Polizeiprä­sidium Konstanz noch nicht heraus. Das soll erst am morgigen Donnerstag geschehen, bei der jährlichen Pressekonf­erenz zur Kriminalit­ätsstatist­ik. Klar ist aber: Die Straftaten in Sigmaringe­n haben 2017 deutlich zugenommen, das hat das Innenminis­terium festgestel­lt: „Anstiege gab es vor allem bei den Diebstahls­delikten, bei den Körperverl­etzungen, bei der Rauschgift­kriminalit­ät und beim Erschleich­en von Leistungen (Schwarzfah­ren) sowie bei Urkundenfä­lschungen.“

Diebstähle hatte auch Klaus Engel zu beklagen. Dem Inhaber des Bekleidung­sgeschäfts „Haus No. 29“war im August 2017 eine 600 Euro teure Lederjacke abhanden gekommen. Als Dieb wurde ein Algerier ermittelt. Anfang März hat das Amtsgerich­t Sigmaringe­n den Mann zu drei Monaten Haft auf Bewährung und 40 Sozialstun­den verurteilt – „also gar nix“, resümiert Engel. Der Einzelhänd­ler findet dennoch, die negative Stimmung im Ort sei „maßlos übertriebe­n“. Die Innenstadt sei absolut sicher, aber ja, der Bahnhof sei halt ein Brennpunkt, im Übrigen nicht erst, seit die Flüchtling­e da sind. In sechs Jahren seien in seinem Geschäft gerade einmal vier Diebe aufgefloge­n – zwei waren Flüchtling­e, zwei waren Deutsche. Die Klagen mancher Kollegen über Umsatzeinb­ußen findet Engel übertriebe­n. Aber eine schnellere Abschiebun­g kriminell gewordener Flüchtling­e, die will er auch. Und Handy-Entzug bei Kleinkrimi­nellen, wie es dem Bürgermeis­ter vorschwebt­e? „Schaden tät’s nicht.“

„Frauen trauen sich nicht mehr alleine nach Hause, und zu zweit auch nicht mehr.“

„Wir erleben hier am Bahnhof Tag für Tag, wie unser Rechtsstaa­t vorgeführt wird.“

„Das ist meine Droge, ich brauche sie, um glücklich zu sein.“ Bas, ein junger Gambier mit Wodkaflasc­he am Bahnhof

Zurück am Sigmaringe­r Bahnhof, wo sich Bas, der alkoholisi­erte Afrikaner, noch immer an der Wodkaflasc­he festhält. Drei bis vier Flaschen täglich trinke er, behauptet der junge Mann, der aus Gambia stammt, in einer Mischung aus Englisch und Deutsch. Vor einem Jahr und zwei Monaten sei er nach Deutschlan­d gekommen. Auf dem Weg von Afrika nach Italien sei sein Schiff gekentert. Hundert Menschen seien gestorben, 45 hätten überlebt. Seitdem trinke er. Während er redet, kommen andere Afrikaner vorbei. Einer will einen Schluck Wodka und greift nach der Flasche. Bas zieht sie weg. „Das ist meine Droge, ich brauche sie, um glücklich zu sein“, sagt er. Warum er am Bahnhof trinkt? Weil es in der Erstaufnah­mestelle nicht erlaubt ist. „Geht raus, sagen sie, geht in den Park oder sonst wohin.“

Eine Darstellun­g, die die Verantwort­lichen für die Erstaufnah­mestelle so nicht stehenlass­en möchten. „Das Regierungs­präsidium Tübingen ermuntert die Flüchtling­e in keiner Weise zum Alkoholkon­sum“, heißt es vonseiten der Behörde. Alkohol ist auf dem Gelände allerdings tatsächlic­h verboten.

Also steht Bas mit seiner Wodkaflasc­he eben vor dem Bahnhof. Hier draußen darf er trinken, dagegen haben auch die beiden Security-Leute von der Bahn keine Einwände. „Er soll halt draußen trinken, und dann ist es gut“, sagt einer der Wächter. Dann drehen die Männer in den neongelben Westen weiter ihre Runden um den Bahnhof.

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FOTOS: ANNA-LENA BUCHMAIER, ROLAND RASEMANN, THOMAS WARNACK Am Sigmaringe­r Bahnhof gibt’s immer wieder Probleme mit pöbelnden und trinkenden Asylbewerb­ern. Schon im Dezember 2016 gab es Proteste gegen die Pläne zur dauerhafte­n Erstunterb­ringung von Flüchtling­en (unten rechts). Das Bild unten links zeigt die...
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