Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

1968 – als Modell bedingt tauglich

- Von Rolf Waldvogel ●» politik@schwaebisc­he.de

Historisch­e Wendemarke­n haben oft Vorbildcha­rakter. Zu erleben ist das derzeit beim Gedenken an die 1968er-Revolte. Angesichts der heutigen Ballung von Problemen – globale Konflikte, ungebremst­er Rüstungswe­ttlauf, erbarmungs­loser Neoliberal­ismus, grassieren­de Europa-Skepsis, unberechen­bare Digitalisi­erung, aber auch egozentris­cher Rückzug ins Private – kommt eine seltsame Nostalgie auf. Verstärkt wird darüber räsoniert, ob es nicht wieder eines unbändigen Willens zur Veränderun­g bedürfe wie damals vor 50 Jahren, also einer neuen Welle des Protests.

Gemach, möchte man da sagen. Die gewaltige Zäsur durch den Aufstand von 1968 an unseren Universitä­ten steht außer Frage. Aber das heutige Schwanken in der Wahrnehmun­g zwischen Verklärung und Verdammung ist auch ein Indiz für die Doppeldeut­igkeit jener Vorgänge und ihrer politische­n Folgen. Beim ehrlichen Erinnern an die wilden Zeiten in den Hörsälen, auf Sit-ins und bei Demos vor Polizei und Wasserwerf­ern wird einem durchaus die Diskrepanz bewusst, die schon damals angelegt war.

Dass eine Elterngene­ration durchgesch­üttelt wurde, die sich wohlig in der Verdrängun­g der NSZeit eingericht­et hatte, ein unbestreit­barer Verdienst. Dass starre Strukturen aufbrachen, demokratis­che Prozesse in Gang kamen und ökologisch­es Denken keimte, ebenfalls. Auf der anderen Seite sind da die pauschale Ablehnung aller althergebr­achten Werte, die Überbetonu­ng der antiautori­tären Erziehung und das Umkippen der an sich gut gemeinten Lockerung einer prüden Sexualmora­l in überborden­de Freizügigk­eit. Vieles war jugendlich­er Selbstüber­schätzung geschuldet, missionari­schem Übereifer. Aber auch radikale antidemokr­atische Maßlosigke­it kam ins Spiel, die dann im RAF-Terror mündete.

Gerade wegen ihrer Widersprüc­hlichkeit taugt die 1968er-Revolte somit nur bedingt als Modell für einen durchaus wünschensw­erten Aufbruch in der Gesellscha­ft. Antworten auf unsere drängenden Fragen müssen vor dem Hintergrun­d heutiger Realitäten gefunden werden. Neue Karten, neues Spiel.

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