Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Matsch, Musik und klare Ansagen
Wie die Musik ab 1968 weitere Generationen prägte
W Wenn irgendwo im Freien eine Festivalbühne errichtet wird und davor ein paar Regentropfen fallen, dann steht ganz, ganz schnell ein Vergleich im Raum: „WoodstockFeeling“. Durch das Aufstellen entsprechender Phrasenschweine könnte man sich ein erkleckliches Einkommen sichern, jedes Mal wenn Matsch und Musik mal wieder aufeinandertreffen
Wie bei vielen Klischees ist aber natürlich auch an diesem etwas dran: Woodstock verkörpert sicher einen der prägendsten Einflüsse der 1968er (auch wenn es erst 1969 statt fand) auf die Ausgestaltung der heutigen Musiklandschaft. Und die richtet sich für viele jüngere und auch altgediente Musikfans mittlerweile nach einem festen Kalender – Rock im Park/am Ring und Southside im Juni, das örtliche Umsonst-und-Draußen im Juli, dann auf nach Wacken Anfang August … Der möglichst friedliche gemeinsame Musikgenuss auf offenem Feld ist eine Konstante, die sich Fans eine ganze Menge kosten lassen. Zuverlässig wird dann auch über die immer größere Kommerzialisierung der Festivals gewettert, wobei das originale Woodstock auch keine reine Wohltätigkeitsveranstaltung war und der Mythos im Nachhinein höchst geschickt befeuert und ausgewertet wurde.
Das Bedürfnis, sich für ein paar Tage aus dem geregelten Alltag auszuklinken, in komische Gewänder zu hüllen und zum Sound der Musik auch mal etwas anderes als eine Limo zu konsumieren, ist jedenfalls ungebrochen. Und wenn dabei auf den großen Festivals eine breite Auswahl an Musikgenres aufeinandertrifft, steht das gleichfalls im vielfältigen Geist von Woodstock. Ebenso geblieben ist die Vorstellung, dass Pop auch politisch sein kann. Sicher gab es schon zuvor Protestmusik, aber die geballte Zusammenkunft von Musikern in Woodstock, die sich klar gegen den Krieg in Vietnam und für die aufblühende Bürgerrechtsbewegung aussprachen, war ein eindringliches Statement.
Politisches Engagement
Dieser Geist lebt fort in Rock-gegenRechts oder Free-Tibet-Festivals, auch wenn sich im Einzelfall diskutieren lässt, ob Bands daran aus tiefer Überzeugung teilnehmen, oder weil Protest chic ist. Das politische Tagesgeschehen spiegelt sich jedenfalls auch auf den Konzertbühnen wider, und so geriet im letzten Jahr selbst das eher unpolitische Rock im ParkFestival zu einer wütenden Anklage gegen den Mann mit den orangenen Haaren im Weißen Haus: von internationalen Acts wie den Prophets of Rage bis hin zu engagierten deutschen Gruppen – von den Toten Hosen über die Broilers bis zu den Aktivisten-Punks von Feine Sahne Fischfilet – gab es klare Ansagen.
So hat 1968 die Darbietung und die Inhalte der Musik bis heute geprägt – wie steht es aber mit dem Stil? Zum einen gibt es nach wie vor Musiker, die zu ihren Hippie-Einflüssen stehen wie Lenny Kravitz, die Fleet Foxes, MGMT oder hierzulande Selig. Doch weniger als ein bestimmter Stil wie Folk oder Protestrock sind es eher die Offenheit zum Experiment, zur Vermischung von Musikrichtungen auch aus weit entfernten Weltregionen und der Mut zum Musizieren auch ohne klassische Ausbildung, die den Einfluss von 1968 ausmachen. Besonders prägend sind dabei deutsche Bands, die im Ausland wesentlich mehr gewürdigt werden als hierzulande – wie die 1968 gegründeten Can oder die ein Jahr zuvor an den Start gegangenen Tangerine Dream. Nimmt man noch Kraftwerk hinzu, deren Vorgänger-Gruppe Organisation ebenfalls 1968 gegründet wurde, lassen sich ein guter Teil der heutigen Elektro-Musikszene, Soundtüftler und auch stilistische Tausendsassas wie Björk direkt oder indirekt mit der Pionierarbeit deutscher Bands in Verbindung bringen. Diese wollten damals ganz sicher keinen Schlager spielen, suchten aber auch nach Alternativen zu den britischen und amerikanischen Vorbildern. Und manchmal schließt sich sogar der Kreis: Der international erfolgreiche Elektronik-Musiker Ulrich Schnauss, Jahrgang 1977 und stark von Tangerine Dream beeinflusst, spielt nach dem Tod von Gründungsmitglied Edgar Froese mittlerweile selbst in der aktuellen Besetzung der Formation.