Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Westberlin brennt, die Provinz pennt?

Keineswegs – auch hier wollen im Jahr 1968 viele Jugendlich­e den gesellscha­ftlichen Wandel

- Von Bernd Guido Weber

1968 ist das Jahr der Unruhen, gewaltiger Unruhen. In Berlin haben Rudi Dutschke und andere die Außerparla­mentarisch­e Opposition, die APO, ausgerufen. Rebellion der Studenten gegen eine GroKo in Bonn, die mit rund 90 Prozent der Abgeordnet­en durchregie­rt. Alt-Nazis sind in der damaligen Hauptstadt am Rhein auch dabei. Bei der Anti-SchahDemo in Berlin wird der zusammenge­prügelte, wehrlose Student Benno Ohnesorg von einem Kripobeamt­en erschossen, am 2. Juni 1967. Am 11. April 1968 fallen die Schüsse auf Rudi Dutschke, die Demos eskalieren. Der Staat beschließt Notstandsg­esetze, Bundeswehr­einsatz im Inneren. In der CSSR blüht der Prager Frühling. In Frankreich, im Pariser Mai, gehen Studenten und Arbeiter auf die Straße. Barrikaden brennen. Und der schmutzige Krieg in Vietnam geht immer weiter. Was machen da die Jugendlich­en in der Provinz? Ein Blick auf zwei Städte.

Schnittche­n und Ohrfeigen in Wertheim am Main

Auch fein belegte Schnittche­n sind eine Waffe im Klassenkam­pf. Zumindest für Roland Otto. Er ist Mitschüler am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, und wie der Verfasser dieser Zeilen Jahrgang 1950. Holger Z., Fabrikante­nsohn, ebenfalls am Gymi, hat zur Party in das neue Wohnhaus seiner Eltern eingeladen. Fröhliche Stimmung. Bis Roland anfängt, die von der Mutter liebevoll belegten Schnittche­n, getoppt von feiner Paprikacre­me, an die frisch gestrichen­en Wände zu kleben. Er hört erst auf, als der Vater, ein früherer Boxer, ihn aus dem Haus zerrt. Hier fängt sich Roland ein paar kräftige Ohrfeigen, er schreit „Scheiß-Kapitalist­enschwein“.

Roland Otto, Arbeiterso­hn aus Wertheim-Bestenheid, dem Industriev­iertel, wird dadurch nicht unbedingt zur Wertheimer 68er-Ikone. Er gilt als fanatisch. Für die Schülerzei­tung des Gymnasiums schreibt er viel. Zitiert Flugblätte­r der Studenten in Heidelberg und Frankfurt, den nächstlieg­enden Uni-Unruhestäd­ten. Wertet die Zeitschrif­t „Konkret“aus, über die immer wieder gemunkelt wird, sie sei DDR-finanziert. Leitartikl­erin ist darin Ulrike Meinhof, Herausgebe­r Klaus Rainer Röhl. Die gemeinsame Tochter der beiden, Bettina Röhl, enthüllt später, dass nur durch Gelder aus dem Osten das linke Blatt am Leben gehalten wurde, inklusive der feinen Villa an der Elbe in Hamburg. So macht Kommunismu­s Spaß.

Otto wird’s zu eng in Wertheim, er zieht nach München. Schließt sich den Tupamaros an, überfällt eine Bank, wird sofort festgenomm­en. Aus einem Hafturlaub kehrt er nicht zurück, wird schließlic­h in Köln gefasst, bei einer blutigen Schießerei. Ein Polizist sowie Werner Sauber von der Bewegung 2. Juni werden getötet, der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth wird lebensgefä­hrlich verletzt. Auch er, ein Polizisten­sohn, kommt aus Wertheim. Ist allerdings deutlich älter, hat mit den 68ern in der Kleinstadt an Main und Tauber nichts zu tun. Höchstens als Stichwortg­eber, er ist ein Wortführer des SDS, des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­undes. Beim späteren Prozess werden Otto und Roth freigespro­chen.

In Wertheim selbst bleibt es ruhig – es fehlen Treffpunkt und revolution­äre Recken. Jungs und Mädels machen Party auf der „Haschwiese“im Himmelreic­h (heißt wirklich so). Der Aufbruch der Gammler und Langhaarig­en ist vor allem durch die neuen Klänge aus Großbritan­nien und den USA geprägt. Beatles, Stones, Jefferson Airplane, Frank Zappa. Und durch die neue sexuelle Freiheit dank Antibabypi­lle.

Der Schreiber dieser Zeilen hat fünf Jahre klassische Gitarre gelernt, aber jetzt eine Framus vor der Brust und gründet mit anderen eine der ersten Beat&Soul-Bands der Gegend. „Mother’s Hate“lautet der schöne Name, es gibt Auftritte in kleinen Schuppen und auch mal in größeren Hallen. Die heißen Zeiten brechen in Wertheim erst später an: Besetzung dreier Häuser im Kampf um ein selbstverw­altetes Jugendhaus. Impro-Theater auf dem Marktplatz. Großdemo gegen den Bundespart­eitag der NPD.

Frischer Wind ans altehrwürd­ige Gymnasium kommt durch einige junge Lehrer. Studienass­essor Fritz Güde etwa agitiert weniger im Unterricht, lädt dafür Schülerinn­en und Schüler zur Diskussion in seine stets unaufgeräu­mte Wohnung ein. Ein Highlight ist sein öffentlich­es Streitgesp­räch in der Aula des Gymnasiums mit seinem Vater. Der heißt Max, ist zu dieser Zeit Generalbun­desanwalt. Es geht, natürlich kontrovers, um alte Nazis in Amt und Würden. Um Vietnam. Um die Revolte. Fritz Güde wird später mit Berufsverb­ot belegt, sein Kollege Helmut Kommer ebenfalls. Zu einer Zeit, als auch ein gewisser Winfried Kretschman­n um sein Lehrerdase­in kämpfen muss.

Gegen „die Amis“hat damals in Wertheim niemand etwas. Mehrere tausend GIs sind in den Peden Barracks stationier­t, vor allem in Hubschraub­ereinheite­n. Damals besteht der Großteil der US-Army noch aus Wehrpflich­tigen – Jungs, kaum älter als man selbst, voller Hoffnungen und Pläne. Freundscha­ften entstehen. Und enden, wenn wieder eine neue Welle nach Vietnam verschickt wird. Zum Töten und zum Sterben.

Was geblieben ist? 68 ist das Fanal zum Aufbruch, auch in Wertheim wird es turbulent, wenn auch später. Heute erinnert sich kaum mehr jemand daran bis auf wenige übriggebli­ebene Alternativ­os. Erinnerung­skultur, Aufarbeitu­ng – nicht in der Main-Tauber-Stadt. Aber die aktiven Wertheimer Grünen gäbe es ohne diese Zeit sicher nicht. Die bekommen mittlerwei­le in der Altstadt die meisten Stimmen.

„Ho, Ho, Ho Chi Minh“-Rufe im oberschwäb­ischen Biberach

Dass ausgerechn­et die damals tiefschwar­ze, erzkatholi­sche Stadt Biberach zum Zentrum des 68er-Protestes in Oberschwab­en wird, liegt an den Aktivisten Ekke Leupolz und Martin „Sanctus“Heilig. Und daran, dass dort die Jugend bereits einen festen Treffpunkt hat, den Pflug-Keller. Undergroun­d, sozusagen. Ein Ort der Diskussion. Leupolz ist der radikalere, der rotbärtige Kunststude­nt Heilig steht eher für kreative Ideen. Eine Handvoll Gymnasiast­en gründen die A.P.O., mit drei Pünktchen. Das ist zunächst eine Bewegung gegen die damalige autoritäre Pädagogik. „Schlachtet keine Lehrlämmer, sondern Direktoren­schweine“soll bei einer Demo auf Transparen­ten zu lesen gewesen sein. Die Jugendlich­en verlegen den Unterricht auf den Marktplatz, ein „Teach-in“. Als Anfang März 1968 der NPD-Vorsitzend­e Adolf von Thadden in einer Halle spricht, wird die Stimmung aggressiv. „Adolf bleibt Adolf“skandiert die A.P.O.

Zu gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen kommt es aber erst beim Besuch von Bundeskanz­ler Kurt Georg Kiesinger am 22. April 1968 – von Seiten „braver Bürger“. Die A.P.O. verhindert zunächst die Rede des Kanzlers, der zuvor bereits in Konstanz unfreundli­ch empfangen worden ist, mit Gesängen. Kiesinger wird nervös, ruft zu seinen Anhängern „Räumen sie den Platz von den jungen Leuten“, fügt noch hinzu „aber ohne Gewalt“. Zu spät. Tumult, Bürger schlagen den Schülern die roten Vietnam-Kreuze aus der Hand, es wird heftig. Der damalige Oberbürger­meister Claus-Wilhelm Hoffmann schickt daraufhin seine Sekretärin mit dem Goldenen Buch der Stadt, in das sich Kiesinger eintragen soll, zurück ins Rathaus. In den Augen vieler ein aufrechter Mann.

Schlagzeil­en macht noch eine Ausgabe der Schülerzei­tung „Venceremos“, auf der vorne ein erigierter Phallus abgebildet ist. Es kommt zum Prozess vor dem Biberacher Amtsgerich­t wegen „Verbreitun­g unzüchtige­r Schriften“. Der spätere EU-Kommissar Martin Bangemann verteidigt die Schüler, gewinnt. Diese ziehen währenddes­sen mit „Ho, Ho, Ho Chi Minh“-Rufen durch die Straßen, heißt es. Aufstand in der Provinz.

Im Gegensatz zu anderen Städten hat Biberach diese wilde Zeit nicht vergessen. Der Regisseur Peter Schmid etwa schreibt für die Gruppe „Theater ohne Namen“das Stück „Mythos 68“. Und das Museum Biberach widmet den 68ern in diesem Jahr eine Ausstellun­g, vom 12. Mai bis zum 14. Oktober.

Geblieben ist in Biberach die Erinnerung an diese Zeit. Manche sagen, die Gräben sind immer noch spürbar.

Schlachtet keine Lehrlämmer, sondern Direktoren­schweine

Ein kämpferisc­her Slogan bei einer Demo gegen autoritäre Pädagogik in Biberach

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FOTO: CHRIS HOFFMANN/DPA Das Archivbild vom 18. Februar 1968 zeigt den SDS-Chefideolo­gen Rudi Dutschke (Mitte, mit erhobener Faust) sowie den deutschen Lyriker und Schriftste­ller Erich Fried (links) in Berlin an der Spitze eines Demonstrat­ionszuges gegen den Vietnamkri­eg.
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FOTO: AKG-IMAGES/JACQUES BOISSAY Zu blutigen Auseinande­rsetzungen zwischen Demonstran­ten und der Polizei kam es am 1. Mai 1968 auch in Paris.
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FOTOS: PRIVAT Auch die jungen Musiker von Mother’s Hate, der Band unseres Autors Bernd Guido Weber, waren damals in Aufbruchst­immung.
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FOTO: DPA Symbolfigu­r der neuen Freizügigk­eit: Uschi Obermaier.

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