Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Der Stoff aus dem Innovationen sind
Südwesttextil präsentiert neue Produkte für Kita, Auto und Bundestag
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ROTTWEIL - Sie machen Brücken stabiler, Fahrzeuge leichter, warnen vor Feuer und kommunizieren – neue Textilien gelten als wahre Alleskönner. Sogar die menschliche Gebärmutter simulieren sie. Um Innovationen noch stärker voranzutreiben, will der Branchenverband Südwesttextil Hochschulen und Forschungsinstitute und Unternehmen nach dem Vorbild des legendären Silicon Valley vernetzen.
Das Symbol für die neu auferstandene, baden-württembergische Textilindustrie steht in Rottweil. Hochturm, Wasserturm, Kappellenturm, Pulverturm – Baden-Württembergs älteste Stadt ist bekannt für ihre Türme. Mit Deutschlands höchster Aussichtsplattform ist die Stadt seit 2017 um einen Turm reicher: 264 Meter misst der Riese, mit dem der Technologiekonzern Thyssenkrupp seine Aufzugstechnologie testet. Das Besondere: Je höher man kommt, desto transparenter wird das Gewebe und desto besser die Aussicht. Der Betonturm ist nicht nur das neue Wahrzeichen der Stadt, sondern gilt mit seiner innovativen Fassade aus Glasfasergewebe seit Kurzem als Wahrzeichen einer ganzen Branche: der südwestdeutschen Textilindustrie.
Die Textilfassade des Stuttgarter Architekten und Bauingenieurs Werner Sobek dürfte eine der spektakulärsten textilen Aushängeschilder der Branche sein. Kein Wunder, dass der Verband Südwesttextil am Dienstagabend in der Turmstadt zu seiner Jahresversammlung zusammenkam. Die Botschaft: Die schlechten Jahre sind vorbei. Und nicht nur das: Die Textilindustrie mausert sich zum Innovationstreiber für zahlreiche andere Branchen. Das wird sich 2018 auch an den Beschäftigungszahlen zeigen, sagte der Präsident von Südwesttextil der „Schwäbischen Zeitung“, Bodo Bölzle.
In kaum einem anderen Bereich wird in Deutschland so intensiv geforscht wie im Textilbereich. 17 Institute und Forschungseinrichtungen gibt es und mit dem Deutschen Institut für Textil und Faserforschung (DITF) ist im Südwesten Europas größtes Forschungszentrum zu Hause. Damit die Vernetzung noch besser klappt, werden unter dem Titel Textile Valley Hochschulen, Forschungsinstitute und Unternehmen noch stärker miteinander vernetzt. Rund 300 Branchenvertreter, Unternehmer, Wissenschaftler und Studenten haben sich am Dienstagabend im Rottweiler Kraftwerk spannende Anwendungsmöglichkeiten aus dem Textile Valley Baden-Württemberg angesehen.
Größter Hoffnungsträger der Branche sind intelligente Textilien. Smarte Feuerwehrjacken können die Träger vor gefährlicher Rauchentwicklung warnen und notfalls Hilfe rufen. Mikroelektronik in Kleidung kann auch bei einem drohenden Kindstod Alarm schlagen oder die Lebensfunktionen älterer Menschen überwachen.
Kommunikation mit dem Gurt
Auch in der Automobilindustrie kommen intelligente Textilien zum Einsatz: Technik aus dem Allgäu ist mittlerweile im Audi A5, dem TT und bei Lamborghini verbaut. Dank einer integrierten Freisprechanlage können Fahrer und Beifahrer in ihren Sicherheitsgurt sprechen und so bequem telefonieren. Die Allgäuer Firma W. Zimmermann mit Sitz in Weiler-Simmerberg bei Lindau hat dazu elektrisch leitfähige Fäden in das Polyestergewebe der Gurte eingearbeitet.
Flexibel und trotzdem stark sind die Ketten der Textilwerke Gruschwitz aus Leutkirch im Allgäu. Das Unternehmen stellt für Logistikunternehmen und Schiffsbau die nach eigenen Angaben stärksten Ketten der Welt her. Der Clou: Die Textilketten sind sehr viel leichter als die aus Metall.
In der Medizintechnik setzen die Textiler ebenfalls Impulse. Das Hohenstein Institute in Bönnigheim bei Stuttgart wurde für die Entwicklung der nach eigenen Angaben weltweit ersten künstlichen Gebärmutter ausgezeichnet. ARTUS (für ARTificial UteruS) imitiert akustische Reize wie den Herzschlag und die Stimme der Mutter und überträgt sanfte Bewegung, ähnlichen denen im Mutterleib. So sollen bei den Frühchen spätere sensorische und motorische Defizite vorgebeugt werden.
Selbst für die Ansprüche schwäbischer Sauberkeit haben die Textiler aus dem Ländle ein Konzept: Ein spezielles Anti-Viren- und Anti-Bakterien-Putztuch soll Infektionsketten in Krankenhäusern und Kitas unterbrechen. Das Tuch wurde ebenfalls am Hohenstein Institute entwickelt.
In Architektur und Design spielten Textilien schon immer eine Rolle. Ein spezielles nicht-brennbares Deko-Gewebe bekommen Fernsehzuschauer fast täglich mit der Tagesschau serviert: Das graue Glasgewebe hinter dem Rednerpult im Deutschen Bundestag hat die Firma Porcher aus Erbach bei Ulm produziert.
Auch in der Umwelttechnik oder in der Freizeit kommen innovative Textilien zum Einsatz. Die Firma Lauffenmühle in Lauchringen bei Waldshut hat kompostierbare Kleidung erfunden. Nach Rückführung in den biologischen Kreislauf bilden die Textilen Nährstoffe für Mikroorganismen. Weder die Farbstoffe oder Chemikalien noch die Fasern selbst hinterlassen schädliche Rückstände.
Das Deutsche Institut für Textilund Faserforschung (DITF) in Denkendorf bei Esslingen hat einen Fahrradhelm entwickelt, der dank einem Textil-Schaumverbund 30 Prozent besser als herkömmliche Helme schützen soll. Ebenfalls vom DITF stammt ein Nebelfänger aus 3D-Gewirk, der Feuchtigkeit aus der Luft bindet und das Wasser sammelt. Die etwa zwei Zentimeter dicke Textilstruktur eignet sich auch zur Filtration von Abwasser oder Feinstaub. Anwendungsmöglichkeiten gibt es genügend. Vom Wassersammeln in der Wüste bis zu den feinstaubgeplagten Kommunen im Südwesten.