Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
In der „Hölle“dem Himmel ganz nah
Drei Tage unterwegs in Garmisch-Partenkirchen im Bann der Zugspitze
Ein Wochenende in GarmischPartenkirchen kann ziemlich kräftezehrend sein – vor allem, wenn es in der Besteigung der Zugspitze, Deutschlands höchstem Berg, gipfelt. Das Tagebuch eines schweißtreibenden Vergnügens.
Freitag, 15 Uhr ●
Ein mächtiges Geweih, darüber das Wort „Bockhüttenkönig“, und das auf einer ziemlich dicht behaarten, muskulösen Wade: Das ist heute mein Ausblick. Flo Nagel, der mit dem Centro das schönste Café mit dem besten Kaffee in Garmisch hat, hat sich den Nachmittag in seinem eigenen Laden frei genommen – und wir radeln wohin? Genau, auf die Bockhütte. Denn Flo ist was? Genau, der Bockhüttenkönig. Sein Tattoo verrät es ja schließlich.
Die ernsthaftesten Sachen im Leben starten ja mit einem Rausch oder einer Wette oder wegen einer Frau oder einer Kombination aus alledem, und so war das auch bei der Sache mit der Bockhütte: Ein Zugereister forderte Flo heraus und behauptete, dass er in einem Sommer häufiger auf seine Lieblingshütte radeln würde als Flo – „aber dass ein Zugereister Bockhüttenkönig wird, das ging ja schon mal gar nicht“, sagt Nagel. Also hat er sich buchstäblich auf den Hintern gesetzt und ist so lange und so häufig hier heraufgefahren, bis er erstens den einzigen Kaiserschmarrn serviert bekommen hat, den je ein Gast in der Hüttengeschichte gegessen hat, bis zweitens der Zugereiste eine Knieverletzung vorgetäuscht hat und bis er drittens sich das Tattoo hat stechen lassen dürfen.
49-mal, 1275 Kilometer, manchmal morgens um vier, manchmal nachts um eins, und immer diese gleiche, verdammt steile, aber doch auch verdammt schöne Tour: hinauf ins Reintal, in das längste und sanfteste Tal, das sich hinauf zur Zugspitze zieht, bis eben zur Bockhütte. „Da habe ich kein Handy, da habe ich keinen Stress, und doch habe ich immer einen netten Ratsch – das ist für mich wie Wellness!“, sagt Flo.
Wellness werden sich die meisten Menschen anders vorstellen, als sich auf einem alten, schweren, immerhin stylischen Bergrad, das eigentlich den Namen Mountainbike nicht verdient, eine schottrig-staubige Forst- straße hinauf zu quälen. Aber der Mountainbiker rund um die Zugspitze ist Kummer gewohnt, hier muss man sich jeden Höhenmeter mühsam erarbeiten. Fahrräder in der Bergbahn? Das kennt man hier noch nicht.
Dunkle Wolken sind aufgezogen, bald nieselt es. Regenjacke an, für die paar Tropfen? Ach was, Flo strampelt einfach weiter. Und plötzlich steht da, aus fetten Balken zurechtgehauen, ein Prachtexemplar alpiner Behausung: die Bockhütte. Annamirl, die Wirtin, sitzt mit dem Fernglas auf der Terrasse. Aber mal eben zwei Weißbier und eine Brotzeitplatte und Kuchen, das kriegt sie mit der linken Hand auch noch hin.
Wir könnten von hier aus weiter, auf die Reintalangerhütte, und von da aus weiter – allerdings ohne Rad – auf die Zugspitze. Aber wir können auch den Feierabend Feierabend sein lassen. Machen wir auch.
19 Uhr ●
In Partenkirchen geht es etwas kleiner, weniger rummelig und traditioneller zu als im touristischeren Garmisch. Die beiden Ortsteile am Fuß der Zugspitze wurden in den 1930er-Jahren zusammengelegt, aus Sicht der Einheimischen also erst vor Kurzem. Und weil das so frisch ist, haben die Partenkirchner nach wie vor ein eigenes Bierzelt, eine andere Tracht als die Garmischer, einen eigenen Skiclub und eine eigene Feuerwehr. Dass die wenigsten Einheimischen wissen, auf welcher Lederhose von welchem Ortsteil das Eichen- laub nach links oder nach rechts zeigen muss – egal. Dass die blauen Jacken die vom Skiclub Partenkirchen sind und die roten die von den Garmischern, das kann man leichter auseinanderhalten. Fällt aber im Sommer nicht so auf.
Das Fraundorfer auf der Ludwigstraße in Partenkirchen ist nicht so überlaufen wie die Wirtschaften in Garmisch. Also gönnen wir uns hier einen Zwiebelrostbraten. Zwei Schuhplattler hüpfen juchzend durch den Mittelgang, das gibt es als Gratis vergnügen – eigentlich, denn den Hut, den der Trachtler eigentlich nie ablegt außer in schwerer Rauferei, den lassen sie jetzt herumgehen.
Samstag, 8 Uhr ●
Vor uns glüht rot die Felsenpyramide der Alpspitze. Über uns rasten ein paar Gämsen. Weit und breit keine Menschenseele: Als hätte das Fremdenverkehrsbüro diesen Moment hier inszeniert.
Christiane und ich sind auf dem Weg zum Kramerspitz. Der vielleicht schönste Aussichtsberg Richtung Zugspitze, der Hausberg der Garmischer. Anders der Wank, der ist sonniger, hat eine Seilbahn – und ist der Hausberg der Partenkirchner. Diese Unterscheidung ist wichtig, das hatten wir ja schon. Wir schauen also auf Garmisch hinab, direkt vor uns, und auf Partenkirchen, weiter im Osten, gönnen uns einen Schluck aus der Trinkflasche und steigen weiter.
Die Sonne wärmt jetzt schon ein bisschen – oder ist das die Anstrengung? Wir schnaufen über den steinigen Pfad bergan, dann über ein paar Kraxelstellen auf die Schulter. Von dort auf einem Wiesengrat, der auch einem Allgäuer Grasberg alle Ehre machen würde, zum Gipfelkreuz.
12 Uhr ●
Wir haben den Gipfel nach Westen überschritten und sind in der Stepbergalm auf einen Kaiserschmarren eingekehrt, der lohnt immer. Den Soundtrack dazu liefern Dutzende Bergschafe der hiesigen Weidegenossenschaft. Nochmal der Blick auf die Zugspitze, da wollen wir morgen hin – und dann geht es talwärts.
15 Uhr ●
Es gibt im Partenkirchner Sommer – das geben sogar manche Garmischer zu – nichts Schöneres, als nach einer Bergtour ein Stündchen im Kainzenbad zu chillen. Ein Naturfreibad mit Sprungturm und einem sensationellen Eiskaffee. Mir ist das Wasser eigentlich mal wieder zwei Grad zu kalt, aber Christiane ist hart im Nehmen. Und das kalte Wasser ist ja auch regenerationsfördernd für die vom Wandern erhitzten Haxen.
18 Uhr ●
Eine klare Nacht ist angekündigt und trockenes Wetter morgen Vormittag – perfekte Voraussetzungen, um endlich auf die Zugspitze zu kommen. Wir wollen über das Höllental aufsteigen, den abwechslungsreichsten und vielleicht schönsten Weg auf die Zugspitze: Lina, Christoph und Schorsch. Lina und Christoph sind den Weg noch nie gegangen, umso besser, dass Bergführer Schorsch Gruber ihn aus dem Effeff kennt. Durch die gurgelnde Höllentalklamm geht es empor, auch diese Klamm ist vom Zugspitzgletscher geformt. Wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit noch auf der „Hölle“ankommen, der Höllentalangerhütte, also machen wir Tempo.
Nach gut zwei Stunden stehen wir vor einer Mischung aus Ufo und Holzbauwerbung: die neue Höllentalangerhütte, lawinensicher und mit allem Komfort in die karge Hochgebirgslandschaft gesetzt. Dutzende Schuhe stehen zum Lüften auf der Terrasse, bloß gut, dass ein leichtes Lüfterl weht. Auf die Idee, über diese Route aufzusteigen, sind also nicht nur wir gekommen.
Das Lager: voll. Die Notschlafplätze: besetzt. Bloß gut, dass Schorsch dabei ist – er ergattert das Bergführerzimmer. Eine zünftige Brotzeit wird aufgetischt. Als Nachtisch gibt es über uns den schönsten Sternenhimmel, den man sich nur wünschen kann. Lange können wir ihn nicht genießen, denn um 4.30 Uhr soll es losgehen. „So sind wir von den Massen weg. Und wer weiß, ob’s nicht am Nachmittag doch noch scheppert“, sagt Schorsch.
Sonntag, 4.29 Uhr ●
Ein sehr kurzes Frühstück, dann geht es los. Der liebliche Höllentalanger endet bald an grimmigen Felswänden. Klettersteigset an, über den ersten Steilaufschwung, die „Leiter“, geht es zum „Brett“, zu einer luftigen Querung durch eine steile Felswand. Nicht nach unten schauen, lieber die Füße auf einen Stahlstift nach dem nächsten setzen – und dann ist diese Schlüsselstelle schon überwunden. Schorsch geht zügig, aber präzise voran. Er reicht hier eine Hand, weist da auf einen sicheren Tritt hin, lädt zur Trinkpause ein, damit wir gar nicht erst in die Erschöpfung laufen.
Silbern schimmert der Höllentalferner vor uns, einer der letzten Restgletscher überhaupt in Deutschland. Wie der Buckel eines riesigen Wals liegt er vor uns, da unterschätzt man die Steilheit leicht. Deshalb: Steigeisen an. „Diese Tour ist so abwechslungsreich, da vergisst man glatt, müde zu werden“, sagt Christoph – und schon hat er die metallenen Zacken unter die Füße montiert.
Regelmäßig von links nach rechts schwankend, mit breit ausgestellten Füßen, ein bisschen wie Matrosen auf Landgang, geht es über den Gletscher. Damit ja kein Zacken am anderen Bein hängen bleibt. Kalte Luftschwaden wehen uns an, während wir den Gletscher Meter für Meter niederzwingen. Jetzt können wir die Eisen im Rucksack verstauen, der letzte Klettersteigabschnitt wartet.
Das Kreuz glänzt uns in der Morgensonne entgegen. Eine letzte Trinkpause, für den Gipfelanstieg, ein letzter Biss ins Brot. „Genießt die Stille“, sagt Schorsch, „denn da oben herrscht Massenandrang“.
11 Uhr ●
Recht hat er gehabt, der Schorsch. Denn nach ein paar Minuten auf schottrigen Steigen stehen wir nun in einem babylonischen Sprachengewirr am Gipfel. Schwäbische Familien, Araber mit weißen Gewändern am Leib und Sandalen an den Füßen, Amerikaner mit College-Pullovern: Sie sind alle mit der neuen Bahn heraufgekommen, wir hingegen haben uns den Gipfel erarbeitet.
Wir lassen uns vom bunten Treiben nicht stören: Gipfelbussi. Brotzeit. Gruppen-Selfie. „Manchmal ist eben der Weg das Ziel“, sagt Lina. Und dann sind auch wir froh, dass wir mit der schicken, vollverglasten Bahn hinabschweben dürfen, zurück ins Tal.