Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Mehr als ein Verein
In ihrer Tischtennis-Akademie bilden die TTF Ochsenhausen Gegenspieler zu den Asiaten aus – und erhalten weltweit Anerkennung
● OCHSENHAUSEN - Vielleicht ist es so, dass man vom Leben zuweilen gedemütigt werden muss, bis man lernt, seinen Kopf einzuschalten, den Gefühlen, dem Herzen und seiner Kreativität zu folgen, bis man sich verändert und das Eigene findet – andere zu kopieren, macht ja weder Spaß noch glücklich. Einem Tischtennisclub, einem Verein, geht es da nicht anders als dem Einzelnen, schon gar nicht den TTF Liebherr Ochsenhausen, die am Samstag (13 Uhr) in Frankfurt im Finale gegen Borussia Düsseldorf deutscher Meister werden wollen.
Die Oberschwaben, 2004 noch Double-Gewinner unter ihrem gewieften Präsidenten Rainer Ihle, der den Verein 30 Jahre lang antrieb und von der Kreisliga an die deutsche Spitze hievte, bekamen in den letzten 14 Jahren zu spüren, dass nichts so alt ist wie die Erfolge von gestern. Sie wurden gedemütigt, mussten demütig werden, und das hatte viel mit einem Jahrhunderttalent namens Timo Boll zu tun. Der Rekord-Europameister aus Hessen, als erster Deutscher Weltranglisten-Erster, schnappte ihnen quasi im Alleingang Siege und Titel weg, fast immer garantierte der heute 37-Jährige Borussia Düsseldorf zwei von drei nötigen Zählern. Und weil dieser Boll auch noch so bescheiden auftrat, so bubenhaft, demütig und vorbildlich, als habe man den Begriff perfekter Schwiegersohn nur seinetwegen erfunden, wurden die TTF gleich doppelt erniedrigt. Beim Champions-League-Finale 2009 in Biberach begannen die 3000 heimischen Zuschauer im Laufe der Partie, nicht mehr TTF zu rufen, sie riefen Timo Boll, den Namen des Gegners und Landsmanns – eben den, den sie vom Fernsehen kannten und mochten. Für die TTF aber war es so, als begänne eine Gerade-noch-Geliebte plötzlich damit, von ihrem neuen Lover zu schwärmen. Boll degradierte Ochsenhausen, er machte es zum Vizehausen, und dass sein damaliger Kompagnon Dimitrij Ovtcharov, kürzlich ebenfalls erstmals die Nr. 1 der Welt, nach dem Triumph halbnackt in den Marktbrunnen der Stadt sprang und ihn quasi entweihte, fühlte sich für die Oberschwaben eher ungut an.
All ihre neun Endspiele seit 2004 verloren die TTF, sechs davon gegen Düsseldorf. Als sie 2013 im Bundesligafinale doch mal auf andere trafen, auf Werder Bremen, wurde es noch bitterer. Ausgerechnet die, die sich jahrelang an Düsseldorf die Zähne ausgebissen hatten, die Ochsenhausener Urgesteine Adrian Crisan und Chuang ChihYuan nämlich, seit Kurzem in Diensten Bremens, schlugen die TTF um ihren alternden Ex-Olympiasieger Ryu Seung Min vernichtend klar mit 3:0. Ausgerechnet die Ex-Ochsenhausener, die verlorenen Söhne, waren Meister. War da ein Kabarettist am Werk? Als Rainer Ihle, der Patriarch, wenig später starb, hatten einige sogar Angst um den Verein. Nicht alle trauten Kristijan Pejinovic, seinem langjährigen Assistenten, inzwischen zum Präsidenten erkoren, zu, das schwere Erbe zu stemmen. Man traute es keinem zu – und irrte.
Pejinovic, Sohn kroatischer Eltern, der selbst Tischtennis als Hobby ausübte, wagte einen kompletten Neuanfang, eine Zäsur, eine Revolution, die ihn anfangs zu fressen schien. Doch wer heute, fünf Jahre später, das Sparkassen-TT-Leistungszentrum der TTF in der Riedstraße betritt, der sieht, dass die Revolution Früchte trägt. „Die Zukunft des Tischtennis“, nennt Pejinovic die Szenerie. Bis zu 20 Lernbegierige zwischen 16 und 23 Lenzen messen sich im Leistungszentrum täglich an zehn Tischen und unter der Aufsicht von bis zu sieben Trainern. Stundenlang wird geblockt, geschmettert und vor allem gestöhnt. Nur, wenn Chefcoach Dubravko Skoric, Assistent Dmitrij Mazunov oder Sportdirektor Michel Blondel, einst französischer Nationaltrainer, in sachtem Ton Kommandos geben, herrscht im 2012 erbauten Tischtennistempel für kurze Zeit Stille an den Netzen. Auch Hugo Calderano und Simon Gauzy, die vor vier respektive fünf Jahren kamen und als Nr. 11 und 12 der Weltrangliste inzwischen der ganze Stolz der Akademie sind, lauschen dann bedächtig.
Himmelreich des Barock nennen sie Ochsenhausen seit zwei Jahrzehnten, eine liebliche Werbekampagne. Der Legende nach hat ein Ochse beim Pflügen in der Gemarkung einst einen Schatz gefunden, den fliehende Nonnen des örtlichen Klosters auf der Flucht vergraben hatten, daher der Name. Die Kirche prangt noch immer über dem wohlhabenden 8000-SeelenStädtchen, in ihrem Schatten hat die Landesmusikakademie ihren Sitz. Doch der größte Schatz, einer, der weltweit ausstrahlt, sind die Tischtennisfreunde und ihre Akademie.
Wenn Pejinovic, 38, über die Zeit nach Ihles Tod spricht, wird er nachdenklich, es war hart für ihn. „Rainer hat mich überallhin mitgenommen, er wollte, dass ich das Leben als Manager von der Pike auf lerne. Er war mein Mentor“, sagt er. „Aber ich wusste damals auch: So kann es nicht weitergehen, und so macht es mir keinen Spaß.“So, das soll heißen: mit dem konventionellen Weg der TTF und vieler anderer Clubs. Nämlich das schöne Geld, das in Ochsenhausen zum Großteil der einen Steinwurf entfernte Weltkonzern Liebherr zur Verfügung stellt, in gestandene Spieler zu stecken, nur, um am Ende festzustellen, dass sie gegen Boll keine Chance haben. Und die alles überragenden Chinesen, die noch besser sind, waren eben nicht zu bekommen.
Pejinovic setzte sich also in den Kopf, die Stars von morgen selber zu formen, eine Akademie zu gründen, so ähnlich, wie es Ex-Weltmeister Werner Schlager in Österreich plante. Doch während dessen Nachwuchszentrum bald konkurs ging, starteten die TTF 2014 mit ihrem Liebherr Masters College erst richtig durch. Pejinovic holte Blondel, eine Koryphäe der Nachwuchsarbeit, er gründete eine Stiftung, er perfektionierte Scouting und Ausbildung und schuf das inzwischen mit Abstand beste Tischtenniszentrum außerhalb Asiens. Und: Er holte den Verein nach Hause. Neben der Trainingshalle entstand eine 500 Zuschauer fassende, kompakte, für Tischtennis ideale Sporthalle mit Tribüne, in der die TTF seit zwei Jahren ihre Heimspiele austragen. Die jahrzehntelange Odyssee des Clubs, der zum Training regelmäßig in kleine Nachbarorte pendeln musste und zu den Spielen nach Biberach, hatte ein Ende.
Pendeln tut heute kein Spieler mehr aus Ochsenhausen, im Gegenteil: Aus allen Teilen der Welt ziehen die Talente, die die TTF mit viel Know-how aquirieren und anziehen, an die Rottum. Selbst aus Japan, der Nr. 2 der Welt, kommen regelmäßig Delegationen, um den Trainern und ihrem System über die Schulter zu schauen. Bereits vor vier Jahren schwärmte der damalige Weltverbandspräsident von der oberschwäbischen Oase, in der es endlich einmal jemand wage, die Chinesen herauszufordern und neue Stars zu TTF-Chef Kristijan Pejinovic über die erfolgreiche Nachwuchsarbeit
kreieren. Nichts ist ja tödlicher für eine Sportart als die große Langeweile, Meisterschaften, in denen schon vorher klar ist, wer gewinnt.
„Jahrelang hat jeder gejammert, dass in Europa keine Stars nachwachsen – wir haben es geändert“, sagt Pejinovic, der die Akademie mit einem cleveren Businessplan finanziert. Er überzeugte die weltweit führenden Tischtennisausrüster, die Belag- und Schlägerhersteller, von seiner Strategie, die unterstützen nun die Talente und Trainer und damit auch das LMC – aus Eigennutz natürlich. Die Firmen haben größtes Interesse daran, dass Tischtennis in möglichst vielen Ländern der Welt gespielt wird und vor allem der europäische Markt weiterfloriert, doch es braucht Animateure dafür, Werbeträger, Landsleute, die die Kinder begeistern. Also will sich jede Firma die kommenden China-Rivalen sichern. Die formen nun die TTF – und zwar nachhaltig.
Der Brasilianer Calderano (21), der Franzose Gauzy (23), der Pole Jakub Dyjas (22), der Portugiese Joao Geraldo (22) und der Japaner Yuto Muramatsu (21) entstammen alle fünf dem eigenen Nachwuchs, seit drei bis fünf Jahren leben sie in Ochsenhausen, trainieren dort bis zu sechs Stunden täglich. Am Samstag wollen sie ihre Lehrzeit mit dem Meisterstück krönen - im TTBL-Finale in Frankfurt, natürlich gegen Bolls Düsseldorfer. Calderano und Gauzy sind derart stark geworden, dass außerhalb Asiens nur noch Boll und Ovtcharov auf Augenhöhe sind. Sie haben etwas, was man kaum lernen kann – die Mentalität, täglich besser werden zu wollen. „Spieler ohne Limits“, nennt sie Skoric.
Calderano, der so schüchtern blickende Spross zweier Sportlehrer aus Rio de Janeiro, hat Boll bereits mit 18 vernichtend geschlagen, Gauzy eine klar positive Bilanz gegen ihn. Wie stark sie sind, sah man jüngst im Champions-League-Halbfinale, als den TTF in einem dramatischen Schlagabtausch nur ein Sätzchen zum Finaleinzug fehlte – die Borussia holte sich danach den Titel. Die Revanche könnte ähnlich spannend werden. Am Mittwoch verneigte sich Headcoach Skoric schon mal vor dem Club, Landsmann Pejinovic und seinem Team. Ein Titel mit den Talenten würde ihn noch mehr freuen als einst die Champions-League-Siege mit Charleroi, sagte der 57-Jährige: „Ich bin dankbar dafür, dass man diesen eigenen Weg ging mit jungen Menschen. Wir alle haben viel gelernt und Spaß gehabt – auch wenn es anfangs dunkle Stunden gab.“Etwa 2014, als das mit Abstand jüngste Team der Liga monatelang in Abstiegsgefahr schwebte. „Für einen Verein, der es immer gewohnt war, ins Halbfinale einzuziehen, war das wie ein Weltuntergang“, sagt Pejinovic. Vor allem er spürte den Druck von außen. „Alle fragten, was ist denn da los bei euch? Wir sagten, dass junge Spieler eben Zeit brauchen und wir weiter an sie glauben.“
Pejinovic hat gelitten, inzwischen kann man sagen: Der Visionär Ihle ist von einem noch größeren Visionär abgelöst worden, einem, der dem Tischtennis dieser Welt neue Spannung schenkt. Der Manager wird Mühe haben, seine Besten über 2019 hinaus zu halten, hochdotierte Ligen in Malaysia, Japan und Indien konkurrieren mit den Vereinen um die Spieler. Doch er hat längst vorgesorgt. Im Sommer kommt der Russe Vladimir Sidorenko (15) zu den TTF, der alles überragende Junior des Kontinents.
Ob ein junger Schwabe eines Tages die Multi-Kulti-Rasselbande ergänzt? Pejinovic will die Kooperation mit den Schulen in der Region noch ausbauen – etwa mit der sportaffinen Ehinger Urspring-Schule. Er werde Strukturen schaffen, sagt er, der Rest liege am Talent selbst und seinen Eltern. Nach Düsseldorf an den Bundesstützpunkt zu wechseln, wo der erfolgsverwöhnte deutsche Verband eine Art Mini-Internat unterhält und dafür Zuschüsse bekommt, bringe rein gar nichts: „Welche Talente hat der DTTB denn herausgebracht in all den Jahren? Leider keines. Woran das liegt, kann ich nicht sagen und auch nicht beurteilen.“Ein Umstand, den bereits Ovtcharov massiv kritisierte. Auch Bolls jüngstes Kompliment an die TTF war bezeichnend.
Düsseldorf hat also nur noch einen Standortvorteil: Boll selbst. Kürzlich wuchs der Routinier im ChampionsLeague-Finale gegen Orenburg wieder einmal über sich hinaus, nur ihm hat es der Club zu verdanken, dass er neun der letzten zehn Meistertitel gewonnen hat. In Frankfurt könnte die Ära enden. Wer am Mittwoch in die Augen der Ochsenhausener schaute, der spürte: Die Zeit der Demütigungen wird bald vorbei sein. „Ich mag Timo sehr, aber in Frankfurt wird er mein Gegner sein“, sagte Gauzy. Die Ochsenhausener werden Boll jagen, und sie werden nicht eher ruhen, bis sie ihn haben.
„Jahrelang hat jeder gejammert, dass in Europa keine Stars nachwachsen.“