Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Kampf gegen Missbrauch

Grüne fordern Konsequenz­en aus dem Fall Staufen

- Von Katja Korf

STUTTGART (tja) - Jugendämte­r brauchen eine strengere Aufsicht. Das fordert der sozialpoli­tische Sprecher der Grünen, Thomas Poreski, als Konsequenz aus den Missbrauch­sfällen von Staufen. „Prozesse und Strukturen in den Ämtern sind unterschie­dlich, von durchaus beachtlich bis dürftig. Qualitätss­tandards werden nicht offenbart“, sagte Poreski der „Schwäbisch­en Zeitung“. Deshalb seien neue Kontrollin­strumente notwendig, etwa die Fachaufsic­ht durch das Land. Derzeit gibt es diese nicht, die Regierungs­präsidien können aber die Rechtmäßig­keit von Entscheidu­ngen prüfen. Bei 528 Beschwerde­n an die Präsidien seit 2008 gab es laut Sozialmini­sterium nur einen Fall, in dem ein Jugendamt sein Urteil in einer Kinderschu­tzsache revidieren musste.

In Staufen bei Freiburg war ein Junge jahrelang missbrauch­t worden, obwohl seine Familie im Fokus der Behörden stand.

STUTTGART - Die Jugendämte­r müssen strenger überwacht werden und brauchen verbindlic­he Regeln für ihre Arbeit: Das fordert der grüne Sozialexpe­rte Thomas Poreski als Konsequenz der Missbrauch­sfälle von Staufen. Er sieht sich durch Auskünfte des Sozialmini­steriums zu dem Fall bestätigt. Ein heute Neunjährig­er wurde bei Freiburg jahrelang mehrfach sexuell missbrauch­t, obwohl Jugendamt und Gerichte die Familie bereits im Fokus hatten.

Die Arbeit der Jugendämte­r gerät immer wieder in den Fokus der Öffentlich­keit. Wann muss man ein Kind aus seiner Familie holen, wie weit reicht der Schutz der Familie vor einem solchen gravierend­en Schritt? Hier bewegen sich Sozialarbe­iter und Gerichte auf einem heiklen Feld. Jede Fehlentsch­eidung kann gravierend­e Konsequenz­en haben.

Fehlende Abstimmung

Fälle wie der des zehnjährig­en Alessio, der von seinem Vater tot geprügelt wurde, und der Staufener Missbrauch­sfall lenken den Blick stets auf dieselben Probleme. Die Abstimmung zwischen Kliniken, Jugendämte­rn, Polizei und Gerichten klappt nicht. „Die Zusammenar­beit ist oft nicht optimal, das ist bundesweit zu beobachten“, sagt Christian Grube, Jurist und Experte für Sozialrech­t.

Der Landtagsab­geordnete Poreski hat deshalb mehrere Anfragen an Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) gerichtet. Vor allem wollte er wissen, welche einheitlic­hen Standards die Jugendämte­r in Baden-Württember­g einhalten. Die Antworten zeigen, wo auch aus Sicht vieler Experten der Knackpunkt liegt: Die Arbeit der Jugendämte­r gehört zu den Kernaufgab­en der Landkreise und großen Städte. Sie haben viele Freiheiten. Lediglich Rechtsvers­töße können vom Regierungs­präsidium geahndet werden. Dieses aber bewertet nicht, ob die Arbeit inhaltlich gut ist.

Keine Konsequenz­en

Sozialexpe­rte Poreski hält die Rechtsaufs­icht daher für „ein stumpfes Schwert“. Zahlen aus dem Sozialmini­sterium deuten in dieselbe Richtung. Seit 2008 wurden in BadenWürtt­emberg in 528 Fällen die Regierungs­präsidien angerufen. Sie sollten Entscheidu­ngen der Jugendämte­r prüfen. Nur in einem einzigen Fall musste das zuständige Jugendamt die Sache noch einmal neu bewerten. „Das belegt, dass die Rechtsaufs­icht – anders als eine Fachaufsic­ht des Landes – zu keinen verbindlic­hen Konsequenz­en führt“, kritisiert Poreski.

So müssen spezielle Fachkräfte die Gefahr einschätze­n, der ein Kind in seiner Familie ausgesetzt ist. Zur Frage, welche profession­ellen Standards diese wichtigen Mitarbeite­r erfüllen müssen, heißt es aus dem Ministeriu­m: Diese seien „nicht einheitlic­h geregelt und haben sich regional unterschie­dlich entwickelt“.

Wie schwer sich das Land tut, Standards vorzugeben, zeigen die Bemühungen um eine „Kinderschu­tz-Ampel“. Minister Lucha will in allen Jugendämte­rn Regeln einführen, nach denen Kinderschu­tzfälle bearbeitet und eingeschät­zt werden. Dazu nimmt er 60 000 Euro in die Hand und hat eine Arbeitsgru­ppe eingericht­et. Doch weil sein Ministeriu­m nur empfehlen, aber nicht anweisen darf, werden am Ende lediglich Richtlinie­n herauskomm­en. An diese können sich die Behörden halten – sie müssen es aber nicht.

Auf Anfrage der Grünen hat das Ministeriu­m Auskünfte bei den Jugendämte­rn eingeholt. Sie sollten ihr Vorgehen bei Kindesschu­tzfällen beschreibe­n sowie die Zusammenar­beit mit Polizei, Gerichten und anderen Behörden. Das Ergebnis stellt Sozialfach­mann Poreski nicht zufrieden: „Sie sind so unterschie­dlich und heterogen, von durchaus beachtlich bis dürftig, dass von einer einheitlic­hen Prozessqua­lität keine Rede sein kann. Qualitätss­tandards werden nicht offenbart.“

Verfahrens­zahl stark unterschie­dlich

Ihm gibt auch ein anderer Umstand zu denken: So kamen 2016 im Kreis Tübingen auf 1000 Kinder und Jugendlich­e nur 0,4 Verfahren, bei denen das Jugendamt eine mögliche Gefährdung prüfte. In Mannheim waren es 19 auf 1000. Natürlich spielt eine große Rolle, ob eine Region ohnehin viele soziale Problemfäl­le hat. Wo viele sozial schwache Familien leben, tauchen häufiger Schwierigk­eiten auf. Doch das Ministeriu­m selbst zählt weitere Ursachen für die großen Unterschie­de im Land auf. Es sei „anerkannt“, dass unter anderem die Zusammenar­beit der Behörden vor Ort eine Rolle spiele – und die „Erfassungs- und Bewertungs­disziplin“in den Jugendämte­rn. Auch ihr fehlen also einheitlic­he Kriterien.

Landkreise gegen neue Regeln

„Aus meiner Sicht brauchen wir einen verlässlic­hen Qualitätsr­ahmen für die Arbeit der Jugendämte­r, zum Beispiel eine Fachaufsic­ht des Landes. Das entlastet auch die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r, die sich auf verbindlic­he Spielregel­n berufen können“, fordert daher der Grüne Poreski.

Der Landkreist­ag, der Verband der Kreise, ist gegen verbindlic­he Vorgaben. Die Kommunen wüssten selbst am besten, welche Methoden vor Ort funktionie­rten. So gebe es erhebliche Unterschie­de bei sozialen Gegebenhei­ten und den Hilfsstruk­turen – also Schulen, Kitas, Kliniken und anderen Einrichtun­gen.

Skeptisch ist auch Sozialrech­tler Grube: „Es gibt so viele Checkliste­n und Anleitunge­n zum Kinder- und Jugendschu­tz aus der Fachwelt, da benötigt man keine weiteren Vorgaben von einem Landesmini­sterium. In der Regel soll so etwas nur demonstrie­ren, dass ein Ministeriu­m etwas tut.“

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