Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Christopher Froome wächst über sich hinaus
Der britische Tour-Sieger fährt beim Giro d’Italia mit einem 80-Kilometer-Solo allen davon und übernimmt das Rosa Trikot
BARDONECCHIA (SID/dpa) - Nach seinem Solo für die Geschichtsbücher fand Christopher Froome tatsächlich noch Kraft zum Jubeln. Im rosa Konfettiregen verspritzte der neue Spitzenreiter des Giro d'Italia ausgelassen Champagner in die Menge, immer wieder reckte er die Arme in die Höhe und ließ sich für die vielleicht beste Einzelleistung seiner Karriere feiern.
80 Kilometer war Froome im Alleingang allen davongefahren. Insbesondere dem bis dato in der Gesamtwertung führenden Simon Yates, der völlig einbrach und keine Chance mehr auf den Sieg hat. Froome war am berühmten Colle delle Finestre getürmt, er nahm die Anstiege nach Sestriere und ins Ziel nach Bardonecchia ohne jegliche Hilfe in Angriff - und distanzierte dabei auch die letzten verbliebenen Rivalen um Titelverteidiger Tom Dumoulin um über drei Minuten. Froome zeigte ein denkwürdiges Rennen. Es beeindruckte, erstaunte und verwunderte. „Ich glaube, ich habe noch nie 80 Kilometer vor dem Ziel angegriffen. Das war schon sehr speziell“, sagte Froome, der als Vierter der Gesamtwertung in den Tag gestartet war: „Ich habe mich gut gefühlt. Jetzt oder nie - ich musste es versuchen.“Froome riskierte alles. Und wurde belohnt.
Froome hat in seiner Laufbahn kleine und große Siege gefeiert. Er attackierte in Abfahrten und Anstiegen, gewann Zeitfahren, joggte im Gelben Trikot den Mont Ventoux hinauf und krönte sich unter anderem vier Mal zum Sieger der Frankreich-Rundfahrt. Der Erfolg in Bardonecchia ragt dennoch heraus.
Froome verdankt seine Triumphe häufig nicht zuletzt der zermürbenden Vorarbeit seiner überlegenen Sky-Mannschaft. Auch am Freitag war sie in Italien am Erfolg beteiligt. Sky war am Colle delle Finestre in berüchtigter Manier an der Spitze des Feldes vorgeprescht. Während Dumoulin (Niederlande/Sunweb) zunächst noch den Kontakt hielt und erst später abreißen lassen musste, bekam Landsmann Yates (Mitchelton-Scott) im Maglia Rosa umgehend massive Probleme. Sein Rückstand im Ziel betrug 38:51 Minuten. Froome verzichtete bei seinem entscheidenden Antritt auf die übliche Kontrolle durch die Helfer und setzte alles auf eine Karte. Die Attacke war waghalsig und mutig, das Ausmaß ihres Erfolges überraschte.
Der 33-Jährige war beim Giro längst abgeschrieben gewesen. Am berüchtigten Monte Zoncolan hatte er zwar einen Etappensieg gefeiert, doch die gewohnte Dominanz ließ er vermissen. Seine Zweifler wird Froome mit dem Sieg am Freitag nicht besänftigt haben – im Gegenteil. Seit Monaten schwelt die Affäre um seinen auffälligen Dopingtest, der im September 2017 einen unerlaubt hohen Wert des Asthmamittels Salbutamol aufwies. Sein Giro-Start war ein viel diskutiertes Thema, nicht bei allen Fahrern ist seine Präsenz gern gesehen. Das gilt auch für die Fans. Sinnbildlich: Kurz nach seiner Attacke rannten Froome zwei als Ärzte verkleidete Zuschauer hinterher - und reckten ihm ein übergroßes Asthmaspray entgegen.
Der offene Ausgang der Affäre ist ein Ärgernis und lässt den Zweifel bei Froome mitfahren. Kritiker dürften sich nach sensationellen Leistungen wie am Freitag bestätigt fühlen.
Froome ließ sich davon nicht beirren. Auf der nächsten anspruchsvollen Bergetappe heute über 214 Kilometer nach Cervinia verteidigt er sein Rosa Trikot. Das will Froome, der seinen zweiten Etappensieg feierte, auch am Sonntag noch tragen. Dann endet die erste große Landesrundfahrt des Jahres in Rom.