Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Leben und die Pläne des Timo Karff
25-Jähriger schwerstbehinderter Ex-Abiturient aus Isny studiert Rechtswissenschaften
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ISNY - Es war ein höchst wertvoller Abend, zu dem das Isnyer Gymnasium in Kooperation mit dem ökumenischen Arbeitskreis Bildung Isny eingeladen hatte – nur leider sehr mäßig besucht: Der 25-jährige Timo Karff, der seit seiner Geburt weder sprechen noch selbständig atmen und schlucken kann, konnte 2013 am Isnyer Gymnasium sein Abitur ablegen – mit der Traumnote 1,4. Nun berichtete er, wie sein Leben in den zurückliegenden fünf Jahren verlaufen ist – und welche Pläne er hegt.
Sein Wissen für die Allgmeine Hochschulreife hatte sich Karff damals weitgehend autodidaktisch angeeignet, also durch Bücher, Internet und „Fernunterricht“. Jetzt studiert er im sechsten Semester Rechtswissenschaften an der Universität Augsburg mit dem Schwerpunkt Sozialund Arbeitsrecht.
Diskussion: Geräte abschalten?
Timo Karffs Leben nachzuzeichnen würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel, erzählte seine Betreuerin Ulla Führing: „Als Timo drei Jahre alt war, habe ich mitbekommen, dass seine völlig überforderten Eltern mit den Ärzten diskutiert haben, ob man nicht besser die Geräte abschalten soll, die Timo am Leben erhalten.“Alternativ stand zur Debatte, Timo abzugeben. Es sei doch eine legitime Frage, ob sich so ein Leben lohnt. „Ist es denn nicht besser, dass man so nicht leben muss?“Diese Frage stand im Raum.
Ulla Führing wuchs als Kriegswaise bei Tanten auf und später auch im Behindertendorf der Diakonie in Bethel bei Bielefeld. Sie wurde Erzieherin, holte das Abitur nach, studierte Pädagogik, wurde Lehrerin, näherte sich der Waldorfpädagogik. Auch ihr Leben voller Schicksalsschläge und Wendungen kann hier nicht ausführlicher nachgezeichnet werden.
In den Jahren in Bethel habe sie erlebt, so erzählt sie, wie abgründigunmenschlich der Gedanke von „lebensunwertem Leben“sei. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass jede Einschränkung auf irgendeine Art ausgeglichen werde – „oft ein Ausgleich auf allerhöchstem Niveau.“
Bei Timo sei es die Gutmütigkeit und seine Intellektualität: „Ich habe mir als Berufung auferlegt, Timo als Pflegemutter anzunehmen – ohne medizinische Ausbildung. Meine Liebe zu Timo musste reichen.“
Gymnasien, bei denen sie anfragte, ob Karff als „Externer“an den Abiturprüfungen teilnehmen könnte, hätten abgelehnt mit der Begründung fehlender Erfahrung und zu großem Aufwand: „Wie sollen wir eine mündliche Prüfung abnehmen von jemandem, der nicht sprechen kann?“zitiert Führing aus Antworten, die sie damals erhielt.
Jochen Müller, Leiter des Isnyer Gymnasiums, und sein Stellvertreter Axel Bächi sagten 2013 jedoch „ja – und die ganze Lehrerschaft hat mit- gezogen“, erinnert sich Bächi. „Wir haben Timo nie klagend erlebt, sondern immer mit seinem Ziel vor Augen. Wenn man von Demut sprechen will, ist es bei Timo angebracht.“Hinterher könne man sich den Vorwurf machen, dass sie damals nicht mehr Begegnungsmöglichkeiten mit den Schülern, vor allem mit den anderen Abiturienten im Sinne der Inklusion in die Wege geleitet hätten.
Das hätte Timo wohl auch befürwortet, wie er mit Hilfe seines Sprachcomputers zu verstehen gibt. „Behinderung ist für mich nicht negativ besetzt – ich bin nur krank, wenn ich erkältet bin“, schreibt er.
Zwischendurch redet Timo mit seiner Pflegemutter mit der Fingersprache. Dabei bewegen sich seine Finger blitzschnell, Ulla Führing versteht jedes „Wort“.
„Kapitalismus-Opfern helfen“
Sein Jurastudium absolviert Karff zum Teil als Fernstudium an der Uni in Augsburg, zu bestimmten Vorlesungen und Fallbesprechungen müsse er auch gefahren werdenie Suche nach einer Kanzlei, in der er sein Uni-Praktikum absolvieren kann, sei schwierig gewesen, erzählt Führing.
Karff ergänzt: „Nur eine Kanzlei hat zugesagt, und genau die Inhaber hatten ein behindertes Kind in der Familie.“Als Studienschwerpunkt habe er Sozial- und Arbeitsrecht gewählt mit der Absicht: „Ich möchte einmal Opfern unserer kapitalistischen Wirtschaft helfen und gegen kapitalistische Strukturen tätig werden.“Die Ankündigung heißt nichts anderes als: Pläne. Lebenslust.