Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Nibelungen-Western
Wormser Festspiele mit „Siegfrieds Erben“und vielen Stars eröffnet
- Der Mythos von den Nibelungen mit seinem Rachepotenzial und der Gier nach dem schnellen Gold kennt keinen Feierabend. Also haben Feridun Zaimoglu und Günter Senkel die Geschichte weitergeschrieben. In „Siegfrieds Erben“lassen sie all die aufeinander treffen, die nach dem Gemetzel bei Etzel übrig geblieben sind. Wieder fließt viel Blut. Regisseur Roger Vontobel versöhnt mit einem kleinen Orchester aber auch das Morgen- mit dem Abendland.
Entfernte Verwandte treffen sich nach langer Zeit wieder und stellen fest: Der Familiengeschichte entkommen wir nicht. Wo so viel Hass und Mord waltete, wird es immer wieder Rache geben. Hunnenkönig Etzel zum Beispiel reitet aus dem morgenländischen Osten in Richtung Worms und ist nicht wirklich gut auf die Sippe am Rhein zu sprechen. Die sitzen in der Mitte Europas und tun so, als stünden sie für das aufgeklärte Abendland. In Wirklichkeit ist dieses Worms aber eine Brutstätte niederster Instinkte. Etzel hat während des Rachefeldzugs seiner Frau und Burgunder-Prinzessin Kriemhild den Sohn verloren.
Die toten Söhne
Auch König Siegmund und Königin Sieglinde der Niederlande wurde der Thronfolger gemeuchelt, Siegfried den Drachentöter und Kriemhilds ersten Mann. Und als sei das nicht genug, müssen sie sich jetzt auch noch um die elternlosen Enkelkinder Swanhild und Gunther kümmern. In Worms treffen die auf weitere Überlebende: auf Brunhild, die klare Kühle aus dem Norden, deren Sohn Burkhardt und auf Ute, die Urmutter der Nibelungen. Dass kann nicht gut gehen. Schließlich haben Feridun Zaimoglu und Günter Senkel einen Nibelungen-Western mit einem Showdown geschrieben, bei dem nur einer einen geladenen Colt hat: Etzel, der vermeintliche Hunnenbarbar, der geradezu neuzeitlich aufgeklärt wirkt. Da steht ein kühler Machthaber, ein Anti-Trump, aber kein früher Putin. Dafür denkt der Hunnenmonarch zu viel darüber nach, wie das ist mit dem Kräfteverhältnis von Ost und West, von Morgen- und Abendland.
Jürgen Prochnow („Das Boot“) ist ohne Zweifel der Star der neuen Nibelungen-Schlacht. Einer wie er ist zwar in Hollywood zu Hause, hat das Bühnenhandwerk aber nicht verlernt, auch wenn er die gefährlichen Seiten des Hunnenkönigs nicht wirklich zur Geltung bringen kann. Dazu ist Zaimoglu/Senkels Etzel dann doch zu sehr ein rationaler Eroberer. Und schließlich ist in Worms alles inzwischen so verkommen, dass man eher Mitleid haben müsste mit dem kümmerlichen Burgunden-Rest und diesen verkommenen Niederländern. Bühnenbildner Palle Steen Christensen und Regisseur Roger Vontobel sorgen dafür, dass das Bühnenworms an der Nordseite des Doms eine dreckige PrekariatsKlitsche ist. Der NibelungenSchatz ruht längst auf dem Grund des Rheins und es gibt nichts mehr zu essen. Entsprechend düster ist die Stimmung. Da kann Wolfgang Pregler, dereinst Star der Münchner Kammerspiele, als Ute noch so als Diva in Richtung Bühnenmitte stöckeln wollen, der alte Glanz ist perdu. Übrig geblieben sind die ungeliebte Schwiegertochter Brunhild (Ursula Strauss macht aus ihr eine machtlos wütende Tyrannin) und Enkel Burkhardt, dem Max Mayer das Gezappel eines Hysterikers verpasst. Nur einmal findet der jüngste Burgunder zu sich selbst. Da tritt die niederländische Swanhild (Linn Reusse spielt ungeheuer präsent und in sich ruhend) an ihn heran und fordert ihn zum Sex auf. Sie will leben, wenn auch nur kurz, schließlich wurde sie bereits von den Großeltern an Etzel verschachert.
Alles liegt darnieder
Und die Übrigen: Die niederländischen Royals Sigmund (Bruno Cathomas) und Sieglinde (Karin Pfammatter) sowie Enkel Gunther (Jimi Blue Ochsenknecht), das zweite Waisenkind der Unglücksverbindung Kriemhild-Siegfried, wirken wie ein fußlahmer Stoßtrupp aus einer Mad-Max-Phantasie. Sie versuchen den Burgunder-Thron zu entern, auch wenn der Ort, an dem er steht, ein so böser ist. Dass sich in und um den Wormser Dom Abgründe der abendländischen Geschichte auftun, macht der Videokünstler Clemens Walter deutlich, indem er mit einer kurzen, aber umso imposanteren Bildbespielung der Domfassade den Eindruck erweckt, als würden aus den Türmen und Fenstern des mittelalterlichen Kirchenschiffs leidende Gesichter und Albtraumfratzen hervorbrechen. Gemildert werden diese Albtraumbilder durch ein kleines Weltorchester (Musik: Keith O’Brien und Matthias Herrmann), dessen Soundtrack das Morgen- mit dem Abendland versöhnt. Allen voran der grandiose Kehlkopfsänger und Pferdekopfgeiger Enkhjargal Dandarvaanchig.