Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Obdachloser stirbt nach Nacht in der Kälte
Fall wurde erst jetzt bekannt – Zwei tote Wohnsitzlose in Lindau in acht Monaten
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LINDAU - Der Tod des 36-jährigen Wohnsitzlosen vor drei Wochen hat gezeigt, dass Obdachlosigkeit auch in Lindau ein Thema ist. Was erst jetzt bekannt wurde: Im Oktober vergangenen Jahres ist bereits ein Obdachloser gestorben. So unterschiedlich diese beiden Schicksale sind, sie zeigen: Auch in Lindau gibt es Menschen, die Hilfe brauchen, aber aus verschiedenen Gründen durchs Raster fallen.
In der Bahnhofsmission hängt eine gerahmte Zeichnung. Sie zeigt einen Mann an Krücken. Es ist das Selbstbildnis eines Obdachlosen, der oft Gast in der Bahnhofsmission war. Darunter hat er geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Im Oktober vergangenen Jahres ist er gestorben – nachdem er eine Nacht in Lindau hilflos in der Kälte saß.
Conny Schäle, Leiterin der Bahnhofsmission, hat den Vorfall so protokolliert: Der 60-jährige Slowake ist im Oktober in der Notaufnahme behandelt worden. Da es keine Diagnose für eine stationäre Aufnahme gab, sollte er das Krankenhaus verlassen. Als sich dieser weigerte, informierte das Krankenhaus, das dem Mann schon wiederholt geholfen und auf verschiedene Weise unterstützt hatte, die Polizei. Die brachte ihn nach draußen. Dort blieb er dann auch. Laut Schäle stand der Mann die ganze Nacht in seinem Rollstuhl in der Nähe des Krankenhauses – in der Kälte. Als die Bahnhofsmission am nächsten Morgen davon erfuhr, sei er unterkühlt und in schlechter Verfassung gewesen. Obwohl ihn schließlich ein Arzt ins Krankenhaus einwies, kam die Hilfe zu spät. Er starb am nächsten Tag an Herzversagen, wie die Polizei bestätigt.
Vor drei Wochen ist wieder ein Mensch gestorben. Auch er war Slowake, auch er war wohnsitzlos, in körperlich schlechter Verfassung und den Helfern der Bahnhofsmission bekannt. Er schlief in einem leerstehenden Haus auf der Hinteren Insel. Im Dreck, in vermüllten Zimmern. Die meisten Leute, die wenige Meter entfernt zum Baden gehen, ahnten nichts von den Zuständen in dem Haus, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Bis der 36-Jährige am Morgen des 19. Juni laut Polizei aus „innerer Ursache“starb: Denn dann schleppten ihn seine hilflosen Mitbewohner auf die Wiese vor das Haus.
Damit wurde die Obdachlosigkeit zum Thema. Der Eigentümer hat das Haus inzwischen räumen lassen, wie die Polizei bestätigt. „Da besteht eine potentielle Gefahr“, sagt Christian Eckel, Sprecher des Polizeipräsidiums Schwaben, die Bewohner hätten dort Feuer gemacht. Das Problem ist damit nicht gelöst. Denn nicht alle Menschen, die in dem Abbruchhaus untergekommen sind, verlassen Lindau. Sie stehen auf der Straße, sind Nacht für Nacht auf der Suche nach einer neuen Unterkunft. Und der nächste Winter kommt.
Fest steht: Wohnsitzlose werden Stadt, Polizei, Krankenhaus und Landratsamt weiter beschäftigen. „Rein rechtlich gesehen fallen diese Menschen leicht durchs Raster“, sagt Tanja Bohnert, Leiterin des Bürgerund Rechtsamtes. Per Gesetz sei die Stadt nur für die Fälle zuständig, bei denen die Obdachlosigkeit in Lindau eingetroffen sei, betont sie. Und auch nur dann, wenn jemand wirklich unfreiwillig kein Dach über dem Kopf habe oder aber dessen Leben gefährdet sei. Das Problem mancher Wohnsitzloser: „Sie haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung, sind aber trotzdem da.“Die Hände in den Schoß legen, könne die Kommune dennoch nicht. „Spätestens im Winter hält man das nicht durch.“Auch wenn die Gemeinde dann oft auf den Kosten sitzenbleibe.
Wohnsitzlose müssen auch „um Hilfe bitten“
Bohnert betont, dass im Ernstfall die „Mechanismen“in Lindau funktionieren, um auch diesen Menschen zu helfen. Gerade in den Kältemonaten helfe man unkompliziert. Sie will aber öffentlich nicht zu sehr ins Detail gehen, um „keine Werbung“zu machen. Das Mindestmaß, was sie verlange, sei, dass jemand – vorausgesetzt, er sei zu einer freien Willensentscheidung in der Lage – um Hilfe bittet. Das hätte aber keiner der beiden Slowaken gemacht. Dabei gebe es in Lindau eine Durchreisendenunterkunft, in der Menschen für ein bis zwei Nächte unterkommen können, nachdem sie polizeilich aufgenommen wurden. Das aber wollten nicht alle, aus verschiedenen Gründen. Diese Erfahrung hat auch Eckel gemacht: „Diese Leute wollen oft nicht untergebracht werden.“Weil sie möglicherweise kein Aufenthaltsrecht haben, oder aber sich nach dem jahrelangen Leben auf der Straße nicht mehr integrieren können. Gegen ihren Willen kann man Menschen nur unterbringen, wenn bei ihnen eine Selbstgefährdung vorliegt. „Die Hürde dafür muss hoch sein“, stellt Bohnert klar.
Was also ist zu tun, um zu vermeiden, dass noch jemand stirbt? Das Beispiel des 60-jährigen Slowaken zeigt, dass eine gute Zusammenarbeit der zuständigen Stellen wichtig ist. Denn rein rechtlich gesehen habe auch hier jeder richtig gehandelt, gemangelt habe es indes am Informationsfluss, sagt Conny Schäle. Sie lud daher im Februar und März zu einem Runden Tisch zum Thema „Obdachlose Gäste in Lindau“ein. Dabei waren Vertreter von Landratsamt, Stadt, Caritas, Polizei und Bahnhof. Es sollte die Kommunikation verbessert werden, so Schäle: „Leute von Amt zu Amt zu schicken, bringt niemanden was.“