Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Opferanwal­t klagt Behörden an

Ein Kind zu schütteln bedeutet, dessen Leben aufs Spiel zu setzen – Warum passiert das immer wieder?

- Von Erich Nyffenegge­r

ROTTWEIL (sz) - Im Mordfall Villingend­orf hat der Rechtsanwa­lt Wido Fischer Anzeige gegen das Polizeiprä­sidium Tuttlingen sowie die Landratsäm­ter Rottweil und Tuttlingen erstattet. Nach Fischers Überzeugun­g ist das Verhalten der Behörden ursächlich dafür, dass der zu lebenslang­er Haft verurteilt­e Drazen D. den gemeinsame­n Sohn, den neuen Freund seiner ehemaligen Partnerin sowie dessen Cousine in Villingend­orf erschießen konnte.

● RAVENSBURG - Zuerst genügt es der jungen Mutter noch, Schubladen zuzuknalle­n. Mit der geballten Faust gegen den Türstock zu hämmern. Sich selbst hart in die Schenkel zu boxen. Oder in den Handballen zu beißen. Aber die Aggression, die in ihrem Körper tobt, kommt dem Kind im Stubenwage­n immer näher, das da liegt und immerzu brüllt. Egal was Natalie auch probiert. Jeder Schrei fühlt sich für sie an, als gieße jemand heißes Öl ins Feuer ihrer verzweifel­ten Hilflosigk­eit, aus der ihr ganzer Körper zu bestehen scheint. Immer wieder hebt sie das Kind heraus, hält es in die Höhe, und der Drang, es endlich doch zu schütteln, es spüren zu lassen, dass es nun endlich, endlich still sein muss, wird so stark, dass ihr beim Ankämpfen gegen dieses diabolisch­e Verlangen schwarz wird vor Augen. Denn sie weiß ja: „Das darf ich nicht tun. Es ist mein Kind. Ich liebe es, egal wie laut und lange es schreit. Es soll leben.“Und nicht für einen schwachen Moment seiner Mutter mit irreparabl­en Schäden bis hin zur schweren geistigen Behinderun­g bezahlen müssen.

Natalie, die nicht wirklich so heißt, hat gelernt, sich im Griff zu haben, nachdem sie schon einige Male an diesem gähnenden Abgrund der Verzweiflu­ng gestanden hat. „Aber es war knapp“, sagt sie mit einem Zittern in der Stimme, und selbst durchs Telefon lässt sich hören, wie die 24Jährige dabei schlucken muss.

Immer wieder müssen sich Gerichte mit Menschen beschäftig­en, die nicht die Kraft für den Weg gehabt haben, den Natalie gegangen ist. Menschen, die eine gefährlich­e Grenze überschrit­ten haben. Deren Impulskont­rolle so schwach ausgeprägt ist, dass sie ihre Kinder, ihr eigen Fleisch und Blut, schwer geschädigt haben. Bis hin zum Tod. Jüngster Fall: Memmingen. Das Landgerich­t verhängte über den 37 Jahre alten Vater eine Strafe von sechs Jahren Gefängnis, nachdem der Mann seinen Säugling derart geschüttel­t hatte, dass das Kind blind und gelähmt sein wird für den Rest seines Lebens. Ein Pflegefall, noch bevor das Leben richtig begonnen hat.

„Im Grunde ist es ja ein Schüttelaf­fekt, Ausdruck von Hilflosigk­eit“, erklärt Dagmar Neuburger. Die Sozialpäda­gogin arbeitet bei der Schwangere­n- und Schwanger schafts konflikt beratungss­telle der Diakonisch­en Bezirks stelle Friedrichs­hafen. Entgegen der weit verbreitet­en Annahme begleitet die Einrichtun­g Familien weit über die Schwangers­chaft hinaus – wenn nötig bis zum dritten Lebensjahr des jüngsten Kindes .„ Damit solche Extrem situatione­n entstehen können, kommen oft verschiede­ne Faktoren zusammen“, weiß Dagmar Neuburger aus ihrer berufliche­n Praxis: Erschöpfun­g, Überforder­ung, Übermüdung, Konflikte mit dem Partner oder das Fehlen eines Partners. Oder eine Suchtprobl­ematik, Arbeitslos­igkeit, beengte oder desolate Wohnverhäl­tnisse.

Fragen, anrufen, um Hilfe bitten

„Meines Erachtens existiert in Friedrichs­hafen ein gutes Netz, um solchen Extremsitu­ationen vorzubeuge­n“, sagt Dagmar Neuburger. Zum Beispiel erhalten alle Familien mit Neugeboren­en in Friedrichs­hafen einen „Familienbe­such“– ein Angebot der Familienbe­auftragten der Stadt in Kooperatio­n mit dem Kinderschu­tzbund. „Ganz egal, wie der soziale Hintergrun­d ist. Egal ob arm oder reich.“Bereits die Hebammen wissen Rat in schwierige­n Situatione­n und wo sich Hilfesuche­nde hinwenden können. Und in akuten Fällen? In Grenzsitua­tionen, wie die junge Mutter Natalie sie erlebt hat? „Es gibt die Notfallnum­mer vom Jugendamt. Oder die Telefonsee­lsorge.“ Jedenfalls sei alles besser als sich dem Impuls der Gewalt auszuliefe­rn, dem verheerend­en Schütteln.

Als Andreas Artlich vor 17 Jahren von der Universitä­tskinderkl­inik Gießen an die Klinik für Kinder und Jugendlich­e im St. Elisabethe­n-Klinikum nach Ravensburg wechselte, da war der Begriff „Schütteltr­auma“in Oberschwab­en praktisch unbekannt. „Es war eine Rarität. Und das ist es jetzt nicht mehr. Das muss man ganz klar sagen“, erklärt der Mediziner trocken, der seither Chefarzt der Kinderklin­ik ist. Als Zeuge und Sachverstä­ndiger muss Artlich immer wieder vor Gericht als Gutachter auftreten, wenn es um die Misshandlu­ng von Kindern geht. „Schütteltr­auma ist ein Zeichen von sozialem Stress. Und damals war der Stress noch nicht so hoch.“

In seinem Arztzimmer liegt eine Puppe auf dem Besprechun­gstisch. Der Kindermedi­ziner hebt sie mit beiden Händen an, umfasst den Brustkorb – und beginnt zu schütteln. Erst langsam, dann immer heftiger. Bei der Puppe sind es nur die künstliche­n Haare und die Stoffglied­maßen, die sich äußerlich bewegen. „Bei einem echten Säugling sieht man die Auswirkung­en zunächst nicht“, erklärt Artlich. An der Hirnoberfl­äche verlaufen Blutgefäße, die mit der Innenseite des Schädelkno­chens verbunden sind. Das Gehirn schwimmt sozusagen im Kopf. Wird es heftig geschüttel­t, können diese Blutgefäße reißen. „So ein Säugling kann ja den Kopf noch nicht selbständi­g halten. Dazu ist die Nackenmusk­ulatur noch zu schwach.“

Mitunter brechen auch Rippen

Aber auch ohne den Blick in den Schädel durch bildgebend­e Verfahren, können entspreche­nd ausgebilde­te Ärzte Hinweise auf ein Schütteltr­auma oder andere körperlich­e Misshandlu­ngen relativ sicher erkennen. Andreas Artlich: „Das Muster von blauen Flecken zum Beispiel. Manchmal sieht man die Daumenabdr­ücke im Brustberei­ch.“Mitunter brechen auch Rippen an bestimmten typischen Stellen, die bei Kleinkindu­nfällen üblicherwe­ise nicht betroffen sind. „Da gehen bei uns die Alarmglock­en los“, sagt Artlich, der sich wünscht, dass durch flächendec­kende Schulungen von Ärzten und Pflegepers­onal die Misshandlu­ngen von Kindern verlässlic­h erkannt würden. Der Arzt glaubt, dass „es nach wie vor eine Dunkelziff­er gibt“, und nennt ein weiteres Beispiel, während er den Arm hebt und mit dem Zeigefinge­r auf den Unterarm deutet: „Wenn ein Kind den Arm gebrochen hat an dieser Stelle, dann ist das eine sehr ungewöhnli­che Bruchstell­e.“ Artlich zieht den Arm weiter nach oben vor den Kopf – und sofort wird deutlich, warum geschulte Kräfte bei einer solchen Verletzung hellhörig werden. Sie kommt zustande, wenn Kinder bei Gewaltatta­cken die Arme instinktiv schützend hochreißen.

„Das Schütteltr­auma ist nur eine – oft auch besonders schwere – Form der Kindesmiss­handlung.“Im Einzugsgeb­iet der Klinik, verteilt auf die Landkreise Ravensburg, Biberach, Sigmaringe­n und den Bodenseekr­eis, lebten etwa 110 000 Kinder und Jugendlich­e. „Und wir sehen schätzungs­weise vier oder fünf Fälle von körperlich­er Kindesmiss­handlung im Jahr. Und davon ist vielleicht einer dieses klassische Schütteltr­auma.“

Hilfsnetz stark entwickelt

Und was passiert, wenn ein misshandel­tes Kind in der Klinik auffällt? „Je nach Schwere informiere­n wir sofort das Jugendamt oder auch die Polizei“, sagt Andreas Artlich und betont: „Diese Stellen kümmern sich und handeln im Notfall wirklich sofort.“Der Mediziner bestätigt, dass sich das Netz der Hilfe für Kinder stark entwickelt habe, seit er vor 17 Jahren nach Ravensburg kam.

Die junge Mutter Natalie hat damals nach ein, zwei Grenzsitua­tionen zunächst mit einer Beraterin vom Jugendamt über ihre Hilflosigk­eit gesprochen. Die alleinerzi­ehende Mutter hat sich dann eine Zeit lang von einer Familienhe­lferin begleiten lassen, deren Handynumme­r immer neben dem Telefon gelegen hat. „Zu wissen, dass ich jemanden erreiche, der im Notfall kommen kann, das hat mir schon geholfen. Gewählt hat sie die Nummer nachts nie. „Das war dann gar nicht mehr nötig“, erzählt sie.

Inzwischen hat sich das Schreiprob­lem ihres Sohnes längst erledigt. Er geht in den Kindergart­en, nächstes Jahr ist Einschulun­g. Ein ganz normaler kleiner Bursche, der nichts davon ahnt, dass er die Grenzen seiner Mutter schon so sehr ausgeteste­t hat.

Ein Videointer­view mit Dr. Andreas Artlich finden Sie unter schwäbisch­e.de/chefarzt

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FOTO: DPA Leuchtende rote Lämpchen im Kopf der Simulation­spuppe markieren die Hirnregion­en, die durch das Schütteln geschädigt werden.
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FOTO: MICHAEL SCHEYER Andreas Artlich, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendlich­e in Ravensburg.

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