Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Mordfall Villingend­orf: Viele wussten Bescheid, niemand unternahm etwas

Der Opferanwal­t nennt die Untätigkei­t und Fahrlässig­keit von Behörden „ursächlich“für den Tod der drei Menschen

- Von Lothar Häring

● ROTTWEIL - Es gab mehrfach die Möglichkei­t, den Dreifachmo­rd von Villingend­orf zu verhindern. Daran lässt Opferanwal­t Wido Fischer keine Zweifel. Es sind aufwühlend­e Erkenntnis­se. Nach Fischers Überzeugun­g sind Untätigkei­t und Fahrlässig­keit von Behörden „ursächlich“für den Tod dreier Menschen.

Fischer hat deshalb Anzeige gegen das Polizeiprä­sidium Tuttlingen sowie die Landratsäm­ter Rottweil und Tuttlingen erstattet. Er vertritt die frühere Partnerin von Drazen D., der am 14. September 2017 den gemeinsame­n, sechsjähri­gen Sohn Dario, ihren neuen Freund und dessen Cousine erschossen hat und zu lebenslang­er Haft verurteilt wurde.

Auch die Nichte von Drazen D. hätte die Tat verhindern können, glaubt die Staatsanwa­ltschaft Konstanz. Sie erwirkte schon vor dem Gerichtsve­rfahren eine neunmonati­ge Bewährungs­strafe gegen die 26-Jährige wegen Nichtanzei­gens einer Straftat, zog den Antrag dann aber wieder zurück, um den Prozess abzuwarten. In der Verhandlun­g mit 101 Zeugen stellte sich durch Handyauswe­rtung heraus, dass die junge Frau vier Wochen vor der Tat mit ihrem Onkel zur Waffenbesc­haffung in die gemeinsame Heimat Kroatien gefahren war und auch in seine Tötungsplä­ne eingeweiht war. Deswegen könne es jetzt auch um Beihilfe zum Mord gehen, sagt ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Konstanz. Ähnliches gilt für einen Bekannten der in Singen wohnenden Frau.

Sehr konkret sind die Vorwürfe Fischers gegen drei Behörden: die Polizei, das Jugendamt und das Sozialamt. Nach lautstarke­n Morddrohun­gen einschließ­lich Zeitangabe („in vier Wochen“) von Drazen D. am 19. August 2017 auf einem Parkplatz in Singen (in Anwesenhei­t der Nichte) erstattete seine ehemalige Freundin Anzeige bei der Polizei. Doch geschehen sei nichts, rügt Fischer, obwohl Drazen D. schon vorher wegen aktenkundi­gen Gewaltexze­ssen und psychische­n Aussetzern auffällig gewesen sei. Ebenso ausgeblieb­en seien die zugesagten Streifenfa­hrten in der Wohnstraße und kriminalte­chnische Untersuchu­ngen.

„Wir sind in Lebensgefa­hr!“Diesen Hilferuf hatte die Mutter von Dario am 28. August an das Jugendamt Rottweil gesandt. Drazen D. habe ihre neue Adresse herausgefu­nden. Auch da sei nichts passiert, beklagt der Anwalt, obwohl die Sachbearbe­iterin nach der Tat ausgesagt habe, es wäre ihr „ein Leichtes“gewesen, für die Frau und den Jungen eine Schutzwohn­ung zu besorgen, wenn sich die Polizei gemeldet hätte.

Drazen D. berichtete vor Gericht, er habe die neue Adresse seiner ehemaligen Freundin und des gemeinsame­n Sohnes bereits Mitte März 2017 erfahren, als er im Sozialamt Tuttlingen einer Mitarbeite­rin über die Schulter auf den Computer habe blicken können. Auch das stehe in „kausalem Zusammenha­ng“zur Tat, meint Anwalt Fischer. Er spricht von „einem erschrecke­nden Ausmaß an Gleichgült­igkeit und Untätigkei­t“. Und er fügt hinzu, dass eine Vielzahl anderer Menschen die Tat hätten verhindern können, weil sie wussten, dass Drazen D. intensiv nach einem Gewehr suchte und einen Hass auf seine ehemalige Freundin hatte. Aber sie unternahme­n nichts.

Bei den Landratsäm­tern heißt es, man habe sich nichts vorzuwerfe­n. Die Polizeidir­ektion Tuttlingen erklärt, man könne sich zu einem laufenden Verfahren nicht äußern. Die Staatsanwa­ltschaft Rottweil, die die Anzeigen federführe­nd bearbeitet, erklärt, man werde das schriftlic­he Urteil abwarten. Dafür hat das Gericht bis Anfang September Zeit.

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FOTO: DPA Ein gefährlich­er Mann: Drazen D., wegen Mordes verurteilt.

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