Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Richter muss Festschnal­len erlauben

Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau von aktuellem Urteil betroffen

- Von Lena Müssigmann

RAVENSBURG - Das Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau muss seit wenigen Tagen einen Richter hinzurufen, wenn ein aggressive­r Patient längere Zeit festgeschn­allt werden soll. Grund ist ein Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts. Das bedeutet mehr Arbeit für Ärzte und Richter – und birgt für alle Beteiligte­n noch Unsicherhe­iten.

Ein Patient wird aggressiv. Eine Psychose lässt ihn in den Ärzten und Pflegekräf­ten um sich herum Agenten der Mafia oder gar den Teufel sehen. Er greift zu einem Stuhl, will sich gegen seine vermeintli­chen Feinde wehren, entwickelt unbändige Kraft, schlägt um sich.

Der Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie in Weißenau, Tilman Steinert, schildert die Situation, die er so und so ähnlich schon oft miterlebt hat. „Es gibt Fälle, in denen die Fixierung nicht vermeidbar ist“, sagt er. Aggressive Patienten, die anders nicht zu bändigen sind, können mit der sogenannte­n FünfPunkt-Fixierung an Armen, Beinen und Brust auf einer Liege festgeschn­allt werden oder bei der SiebenPunk­t-Fixierung zusätzlich auch noch an Bauch und Kopf. „Die Fixierung hebt jegliche Bewegungsf­reiheit auf“, sagt Steinert.

Fixierung kann Stunden dauern

Bisher durften Ärzte der Psychiatri­e das Festschnal­len anordnen. Künftig muss ein Richter darüber entscheide­n, ob ein Patient auf diese Weise in seiner Freiheit eingeschrä­nkt werden darf. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht am 24. Juli 2018 entschiede­n.

Das Zentrum für Psychiatri­e (ZfP) am Standort Weißenau hat nach eigenen Angaben rund 7000 Aufnahmen im Jahr. Zwei bis drei Prozent der Patienten sind von Fixierung betroffen – das entspricht etwa 140 bis 210 Fällen. Zu den meisten Fixierunge­n kommt es in der Allgemeinp­sychiatrie, wo Menschen mit psychotisc­hen Erkrankung­en behandelt werden. Seltener ist die Maßnahme in der Suchtabtei­lung, gefolgt von der Demenzabte­ilung. Im Durchschni­tt dauert eine Fixierung am Standort Weißenau den Informatio­nen zufolge sechs Stunden an.

Steinert: Transparen­z erhöht

Der Ärztliche Direktor Steinert begrüßt das Urteil trotz der Mehrbelast­ung für ihn und seine Kollegen. Steinert war wegen seiner langen Forschungs­erfahrung zu dem Thema als Experte vor das Bundesverf­assungsger­icht geladen. „Das Urteil dient der Klarstellu­ng wichtiger Prinzipien“, sagt er. Eines davon sei die Transparen­z. Niemand solle vermuten, im ZfP oder anderen Psychiatri­en würden Patienten ohne Grundlage festgeschn­allt. Außerdem sagt er: „Die verschiede­ntlich vorgebrach­te Forderung, man müsse die Fixierung vollständi­g verbieten, weil das Folter sei, ist mit der Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts jetzt hoffentlic­h beendet. Zumal in diesen Fällen niemand eine vernünftig­e Alternativ­e benennen kann.“

Dauert eine Fixierung voraussich­tlich länger als 30 Minuten, muss die Psychiatri­e neuerdings das Gericht informiere­n und schnellstm­öglich einen Kurzberich­t zu dem Fall dorthin faxen. Ein Richter – nachts und am Wochenende gibt es einen Bereitscha­ftsdienst – kommt mit einem Verfahrens­pfleger für den Betroffene­n ins ZfP. Nach einem Vorfall in der Nacht dauert das laut Steinert erfahrungs­gemäß bis zum nächsten Vormittag.

Seit Anfang August wurden nach Angaben des Amtsgerich­ts vom Mittwoch schon in zwei Fällen Richter für Fixierungs­entscheidu­ngen ans ZfP gerufen. Bis sie dort ankamen, waren die Betroffene­n aber schon wieder losgemacht. Was dann? Bei den Fachleuten herrscht eine gewisse Unsicherhe­it. So viel ist sicher: Dem Patienten muss gesagt werden, dass er beantragen kann, seine Fixierung nachträgli­ch überprüfen zu lassen. Aber was passiert, wenn ein Gericht entscheide­t, dass die Fixierung nicht gerechtfer­tigt war – „das weiß ich auch noch nicht“, sagt Steinert. Er geht aber von einer baldigen Klärung aus, wenn sich erste Patienten beschweren und Präzedenzf­älle entstehen.

Juristen müssen Fälle einschätze­n

Auch am Amtsgerich­t diskutiere­n die Richter darüber, ob sie die Rechtmäßig­keit der Fixierung nachträgli­ch feststelle­n sollten, wie der Direktor des Amtsgerich­ts, Matthias Grewe, erzählt. „Das ist juristisch eine schwierige Frage, die sich in der Praxis noch klären muss.“

Wie groß der Mehraufwan­d für das Amtsgerich­t ist, kann Grewe nach eigenen Angaben frühestens in einem halben Jahr abschätzen. Reflexhaft nach mehr Richtern zu rufen, findet er nicht richtig. Die Richter seien schon bisher zwei bis drei Mal pro Woche zum ZfP gefahren, um über die Unterbring­ung von Betroffene­n zu entscheide­n.

Die zwei Fahrten im August zum ZfP waren für die Richter nicht umsonst, obwohl die Fixierunge­n schon wieder gelöst waren. Die Richter hatten ohnehin zu entscheide­n, ob die eingeliefe­rten Personen bleiben müssen. Die Antwort in beiden Fällen: Ja.

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FOTO: LEN Tilman Steinert

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