Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Richter muss Festschnallen erlauben
Zentrum für Psychiatrie in Weißenau von aktuellem Urteil betroffen
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RAVENSBURG - Das Zentrum für Psychiatrie in Weißenau muss seit wenigen Tagen einen Richter hinzurufen, wenn ein aggressiver Patient längere Zeit festgeschnallt werden soll. Grund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das bedeutet mehr Arbeit für Ärzte und Richter – und birgt für alle Beteiligten noch Unsicherheiten.
Ein Patient wird aggressiv. Eine Psychose lässt ihn in den Ärzten und Pflegekräften um sich herum Agenten der Mafia oder gar den Teufel sehen. Er greift zu einem Stuhl, will sich gegen seine vermeintlichen Feinde wehren, entwickelt unbändige Kraft, schlägt um sich.
Der Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Weißenau, Tilman Steinert, schildert die Situation, die er so und so ähnlich schon oft miterlebt hat. „Es gibt Fälle, in denen die Fixierung nicht vermeidbar ist“, sagt er. Aggressive Patienten, die anders nicht zu bändigen sind, können mit der sogenannten FünfPunkt-Fixierung an Armen, Beinen und Brust auf einer Liege festgeschnallt werden oder bei der SiebenPunkt-Fixierung zusätzlich auch noch an Bauch und Kopf. „Die Fixierung hebt jegliche Bewegungsfreiheit auf“, sagt Steinert.
Fixierung kann Stunden dauern
Bisher durften Ärzte der Psychiatrie das Festschnallen anordnen. Künftig muss ein Richter darüber entscheiden, ob ein Patient auf diese Weise in seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Das hat das Bundesverfassungsgericht am 24. Juli 2018 entschieden.
Das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) am Standort Weißenau hat nach eigenen Angaben rund 7000 Aufnahmen im Jahr. Zwei bis drei Prozent der Patienten sind von Fixierung betroffen – das entspricht etwa 140 bis 210 Fällen. Zu den meisten Fixierungen kommt es in der Allgemeinpsychiatrie, wo Menschen mit psychotischen Erkrankungen behandelt werden. Seltener ist die Maßnahme in der Suchtabteilung, gefolgt von der Demenzabteilung. Im Durchschnitt dauert eine Fixierung am Standort Weißenau den Informationen zufolge sechs Stunden an.
Steinert: Transparenz erhöht
Der Ärztliche Direktor Steinert begrüßt das Urteil trotz der Mehrbelastung für ihn und seine Kollegen. Steinert war wegen seiner langen Forschungserfahrung zu dem Thema als Experte vor das Bundesverfassungsgericht geladen. „Das Urteil dient der Klarstellung wichtiger Prinzipien“, sagt er. Eines davon sei die Transparenz. Niemand solle vermuten, im ZfP oder anderen Psychiatrien würden Patienten ohne Grundlage festgeschnallt. Außerdem sagt er: „Die verschiedentlich vorgebrachte Forderung, man müsse die Fixierung vollständig verbieten, weil das Folter sei, ist mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jetzt hoffentlich beendet. Zumal in diesen Fällen niemand eine vernünftige Alternative benennen kann.“
Dauert eine Fixierung voraussichtlich länger als 30 Minuten, muss die Psychiatrie neuerdings das Gericht informieren und schnellstmöglich einen Kurzbericht zu dem Fall dorthin faxen. Ein Richter – nachts und am Wochenende gibt es einen Bereitschaftsdienst – kommt mit einem Verfahrenspfleger für den Betroffenen ins ZfP. Nach einem Vorfall in der Nacht dauert das laut Steinert erfahrungsgemäß bis zum nächsten Vormittag.
Seit Anfang August wurden nach Angaben des Amtsgerichts vom Mittwoch schon in zwei Fällen Richter für Fixierungsentscheidungen ans ZfP gerufen. Bis sie dort ankamen, waren die Betroffenen aber schon wieder losgemacht. Was dann? Bei den Fachleuten herrscht eine gewisse Unsicherheit. So viel ist sicher: Dem Patienten muss gesagt werden, dass er beantragen kann, seine Fixierung nachträglich überprüfen zu lassen. Aber was passiert, wenn ein Gericht entscheidet, dass die Fixierung nicht gerechtfertigt war – „das weiß ich auch noch nicht“, sagt Steinert. Er geht aber von einer baldigen Klärung aus, wenn sich erste Patienten beschweren und Präzedenzfälle entstehen.
Juristen müssen Fälle einschätzen
Auch am Amtsgericht diskutieren die Richter darüber, ob sie die Rechtmäßigkeit der Fixierung nachträglich feststellen sollten, wie der Direktor des Amtsgerichts, Matthias Grewe, erzählt. „Das ist juristisch eine schwierige Frage, die sich in der Praxis noch klären muss.“
Wie groß der Mehraufwand für das Amtsgericht ist, kann Grewe nach eigenen Angaben frühestens in einem halben Jahr abschätzen. Reflexhaft nach mehr Richtern zu rufen, findet er nicht richtig. Die Richter seien schon bisher zwei bis drei Mal pro Woche zum ZfP gefahren, um über die Unterbringung von Betroffenen zu entscheiden.
Die zwei Fahrten im August zum ZfP waren für die Richter nicht umsonst, obwohl die Fixierungen schon wieder gelöst waren. Die Richter hatten ohnehin zu entscheiden, ob die eingelieferten Personen bleiben müssen. Die Antwort in beiden Fällen: Ja.