Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Projekt Waldrapp

Nachwuchs des seltenen Vogels hebt in Überlingen ab

- Von Walter Willems

● RADOLFZELL/MOSKAU (dpa) - Wenn zwei Kosmonaute­n heute Abend die Internatio­nale Raumstatio­n ISS verlassen, werden deutsche Forscher vom Moskauer Kontrollze­ntrum aus jede Bewegung gespannt verfolgen. In einem rund siebenstün­digen Außeneinsa­tz wollen Oleg Artemjew und Sergej Prokopjew einen Mast samt Antenne an die Außenhülle des russischen ISS-Moduls montieren. Die Anlage ist das Herzstück von Icarus – einem Mammutproj­ekt zur Tierbeobac­htung.

„Jahrelang haben wir über das Projekt gesprochen“, sagt Martin Wikelski, Direktor am Max-PlanckInst­itut für Ornitholog­ie in Radolfzell. „Jetzt geht es tatsächlic­h los.“Er hat Icarus vor mehr als 16 Jahren erdacht und konzipiert. Forscher wollen Tiere mit Minisender­n ausstatten und mithilfe der ISS beobachten. Das soll Aufschluss geben etwa über die Wanderunge­n von Zugvögeln und so auch zum Schutz der Arten beitragen. Zudem hofft man, dass Icarus in Zukunft als Frühwarnsy­stem für Epidemien und auch für Naturkatas­trophen wie Erdbeben und Vulkanausb­rüche dient.

Schon lange gibt es Berichte, dass Tiere vor solchen Ereignisse­n unruhig werden. Ziegen am Ätna etwa bewegen sich vor Eruptionen auffällig. Diesen vermeintli­chen siebten Sinn wollen Forscher nutzen. „Das System erlaubt uns nicht nur, zu beobachten, wo ein Tier ist, sondern auch, was es gerade tut“, erläutert Wikelski. „Wir könnten ein globales System intelligen­ter Sensoren einsetzen, um die Welt zu beobachten.“

Mithilfe von Icarus sind viele solche Untersuchu­ngen geplant. So wollen Forscher Papageien in Nicaragua in der Nähe eines Vulkans beobachten, Ziegen im erdstoßgep­lagten Mittelital­ien mit Sendern versehen, Bären als Erdbebenwä­chter auf der ostrussisc­hen Halbinsel Kamtschatk­a nutzen. „Wir fangen jetzt damit an, Tiere an Orten zu besendern, wo Naturkatas­trophen auftreten“, sagt Icarus-Koordinato­rin Uschi Müller. Zunächst sind 1000 Sender geplant, die Zahl soll rasch steigen. „Letztlich wollen wir 100 000 tierische Spürhunde für die Menschheit“, sagt Wikelski. „Wenn wir all diese Informatio­nen kombiniere­n, erhalten wir ein völlig anderes und neues Verständni­s vom Leben auf diesem Planeten.“

Wikelski hatte seine Idee damals der US-Raumfahrtb­ehörde Nasa vorgestell­t – und war abgeblitzt. Die russische Raumfahrtb­ehörde Roskosmos war aufgeschlo­ssener. Beteiligt sind außerdem die Max-Planck-Gesellscha­ft, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und die Universitä­t Konstanz. Die deutschen Partner finanziere­n die Entwicklun­g der Technik, die Russen kümmern sich um den Transport und die Installati­on im All.

Entscheide­nd für die Forschung sind eigens entwickelt­e Minisender, die sogar größeren Singvögeln wie etwa Amseln rucksackar­tig auf den Rücken geschnallt werden können. Sie wiegen etwa fünf Gramm, sind zwei Kubikzenti­meter groß, haben eine 15 Zentimeter lange Drahtanten­ne und eine Speicherle­istung von 500 Megabyte. Sechs Sensoren übermittel­n nicht nur die Position des Tiers, sondern auch seine Beschleuni­gung, die Ausrichtun­g zum Magnetfeld der Erde, die Umgebungst­emperatur sowie Luftdruck und Feuchtigke­it.

Die ISS umkreist die Erde 16-mal pro Tag. Mithilfe der Antenne liest sie dabei einen etwa 800 Kilometer breiten Erdstreife­n aus, der ungefähr die Fläche zwischen den beiden 56. Breitengra­den umfasst – also zwischen Kopenhagen und Moskau im Norden und Feuerland im Süden. Nähert sie sich einem Sender, sendet der ein kleines Datenpaket hoch.

Das Icarus-System auf der ISS kann alle drei Sekunden Signale von etwa 120 Sendern empfangen. Es leitet die Informatio­nen weiter an die Bodenstati­on, von dort gehen sie an die jeweiligen Forscherte­ams. Das Verhalten der Tiere ist dennoch schwer zu interpreti­eren. Wird eine Ziegenherd­e am Ätna unruhig, weil ein Ausbruch bevorsteht oder weil ein Wolf in der Nähe ist? „Die Interpreta­tion vieler Daten müssen wir noch lernen“, sagt Walter Naumann, Geschäftsf­ührer der Firma IGOS aus Solingen, die die Sender mitentwick­elt hat.

Dass auch die Medizin von dem Projekt profitiere­n kann, soll Wikelskis eigene Forschung zeigen. Der Biologe will in Afrika Flughunde, die in riesigen Schwärmen über den Kontinent ziehen, mit Sendern versehen. Die Tiere kommen nach Meinung vieler Forscher mit dem Erreger des Ebolavirus in Kontakt und tragen deswegen Antikörper. Im Fall einer Epidemie könnte man, so hoffen die Wissenscha­ftler, anhand der Wanderungs­bewegungen der Tiere ermitteln, wo der jeweilige Erreger herstammt – und so die bislang unbekannte­n Ebolareser­voire aufspüren.

Forscher weltweit interessie­ren sich für Icarus. „Wir haben Tausende Anfragen“, sagt Müller. „Aber zunächst haben deutsche und russische Projekte Priorität.“

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FOTO: WALDRAPPTE­AM
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FOTO: DPA Bereit für den Dienst an der Wissenscha­ft: Ziegenherd­e am Ätna in Sizilien.

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